Vergeltungsschlag zu später Stunde

Nicht zum ersten Mal in einem Untersuchungsausschuss kommen brisante Themen erst dann auf den Tisch, wenn es kaum ein Zuschauer noch mitbekommt.

Die Besuchertribüne ist an diesem Donnerstag kaum gefüllt. Etwas mehr als 20 Personen sind anwesend. Etwa die Hälfte Journalisten, die Mehrheit aus dem Bereich der Printmedien. Die TV-Kameras zeichnen kurz einige Auftaktstatements der Obleute auf und schießen ein paar Bilder vom ersten Zeugen. Prof. Dr. Bernhard Kretschmer wird zu einem Gutachten befragt, das er bereits vor dem NRW-Untersuchungsausschuss präsentiert hat.

Dr. Bernhard Kretschmer

Nach gut 90 Minuten unterbricht eine namentliche Abstimmung den Sitzungsverlauf für fast eine Stunde. Das schlägt sich auf der Besuchertribüne nieder. Als die Sitzung fortgesetzt wird, sind nur noch etwa die Hälfte der Personen anwesend, die zu Sitzungsbeginn der Befragung lauschten. Manch ein Pressevertreter schaut nur einmal kurz vorbei. Eine Kollegin arbeitet an so vielen Themen im parlamentarischen Betrieb, dass auch sie irgendwann dem nächsten Thema hinterhereilen muss.

Stunde um Stunde leert sich die Tribüne. Eine Kontroverse unter den Abgeordneten will geklärt werden. Man geht in eine kurze nichtöffentliche Beratungssitzung. Wieder fehlen ein paar Zuschauer und Pressevertreter, als die Sitzung schließlich fortgesetzt wird. Eine solche Entwicklung ist verlässlich und tritt nicht nur in diesem Untersuchungsausschuss zutage.

Aufmerksamkeitsökonomie

Die Befragung des ersten Zeugen zieht sich merklich hin. Kretschmer hat die Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Uni Gießen inne und war als Sonderermittler in Nordrhein-Westfalen eingesetzt. Er verteidigt sein Gutachten gegen Vorwürfe aus den Reihen der Union und lässt sich von den Oppositionsparteien nicht zu Aussagen verleiten, die naheliegen, aber nicht getroffen werden können. Kretschmer urteilt nach den Dokumenten und Informationen, die ihm zur Verfügung standen, und macht deutlich, wo Fragen offen bleiben.

Es wirkt, als haben die beteiligten Landeskriminalämter aus NRW und Berlin den Fall des Attentäters wie eine heiße Kartoffel behandelt, die niemand haben wollte. Uneinigkeit bestand wohl auch bei der Einschätzung, ob der Tunesier ein Gefährder sei oder nicht. „Für mich ist die landesbezogene Einstufung nicht nachvollziehbar und antiquiert“, sagt Kretschmer. „Ist jemand ein Gefährder, dann in jedem Bundesland.“

Kretschmer beschreibt, dass die Ausländerbehörde in NRW den Attentäter als Gefährder kannte, dies den tunesischen Behörden aber so nicht mitteilen wollte, weil es die Chancen auf Rückführung minimiert hätte. In Tunesien ließ man sich derweil Zeit mit der Anerkennung der Staatszugehörigkeit und Ausstellung von Ersatzpapieren. Erst wenige Tage nach dem Attentat war der Attentäter wieder ein Tunesier.

Der Nachrichtenwert des Ausschusses sinkt mit jeder Minute, die die Befragung andauert, denn Kretschmer kann nur das ansprechen, was längst bekannt ist. Die Fragerunden wirken endlos. Wer gehen muss, der geht. Sieben Stunden nach Sitzungsbeginn sind immerhin noch acht Menschen auf der Zuschauertribüne, als die Zeugin vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgerufen wird.

Ungeeignete Zeugin

Birgit Gößmann erläutert das System von Verbindungsbeamten in den europäischen Ländern, die damit befasst sind, die Umsetzung des Dublin-Abkommens sicherzustellen. Beamte ihres Bereichs versuchten vor der Tat zu ermitteln, ob der Attentäter von Deutschland nach Italien hätte abgeschoben werden können. Doch der Name des Attentäters war in den italienischen Datenbanken nicht zu finden. Datenbanken, die schon in Deutschland so viele unterschiedliche Schreibweisen des Attentäters enthielten, dass allein 10 der 14 Identitäten des Attentäters auf die ungenaue Erfassung in den Behörden zurückzuführen sind.

Birgit Gößmann (BAMF)

Die Obleute setzen die Zeugin Gößmann unter Druck. Zur Zusammenarbeit der BAMF-Beamten mit den Geheimdiensten in den deutschen Botschaften im Ausland kann die Zeugin nichts aussagen. Besser geeignet seien andere, meint Gößmann. Und die Bundesregierung muss sich die Frage gefallen lassen, warum Gößmann als geeignete Zeugin benannt wurde, aber nun weder zum Fall des Attentäters noch zu den Strukturen und Arbeitsweisen in den Auslandsdienststellen etwas sagen kann. Bohrende Fragen der Opposition rufen die Vertreter der Bundesregierung auf den Plan, die erstmals in diesem Ausschuss intervenieren wollen, doch der Ausschussvorsitzenden Armin Schuster reagiert schneller und hält Konstantin von Notz (Bündnis 90 / Grüne) von weiteren Fragen ab.

Auf der Tribüne verbleiben noch gerade einmal fünf Zuschauer, als der Ausschuss um 21:30 Uhr die Zeugin des Bundeskriminalamtes aufruft: zwei freie Journalisten, die Zeichnerin und ein Praktikant der CDU/CSU-Fraktion ‒ bewacht von einem Beamten der Bundestagspolizei. Längst ist die Grenze eines normalen Arbeitstages erreicht. Für Artikel in der Tagespresse ist es zu spät, denn die Druckerpressen laufen längst. Abgesehen davon, dass der Ausschuss bisher auch nichts spektakulär Neues zutage gefördert hat.

Vergeltungsschlag

Es ließe sich spekulieren, dass nur ob der späten Stunde und ob des geringen Publikums bei der Vernehmung der BKA-Zeugin Sabine Wenningmann Fragen gestellt werden, über die noch nirgends berichtet wurde. Zeugin Wenningmann arbeitet im BKA in Berlin-Treptow und betreut ebenfalls Verbindungsbeamte in Auslandsdienststellen. Auch sie scheint zunächst die falsche Frau an diesem Abend zu sein, kann zum Fall wenig Konkretes beisteuern und gibt allenfalls Impulse, wo relevante Zeugen zu finden sind.

Sabine Wennigmann (BKA)

Während Beatrix von Storch (AfD) schon in der zweiten Fragerunde an dem Punkt angekommen ist, nur noch nach allgemeinen Verbesserungsempfehlungen zu fragen, weckt Konstantin von Notz die Zeugin mit einem Aktenvorhalt aus der aufkommenden Lethargie: „Da steht zumindest Ihr Name oder ist das jemand, der so heißt wie Sie?“

Was nun um 22:45 Uhr folgt, dreht sich um die Ereignisse nach dem Attentat. Eine „Einsatzgruppe City“, geleitet von der Abteilung Staatsschutz. Es geht, so die Darstellung von Martina Renner (Die Linke), um das Auto eines vermeintlichen Terroristen, das durch eine paramilitärische Einheit im Februar 2017 in Libyen gestoppt worden wäre, wobei eine Person erschossen worden sei, die vorher mit dem Attentäter in Deutschland Kontakt gehabt hätte. Konstantin von Notz spricht von einem Vergeltungsschlag.

„Da ich es in Vertretung abgezeichnet habe, ging es über meinen Schreibtisch. Ich erinnere mich nicht“, gibt Zeugin Wenningmann zu Protokoll. Für Konstantin von Notz bleibt es unverständlich, dass ein Vorgang, der eine Tötung ohne Prozess wenige Wochen nach dem Attentat dokumentiere, nicht im Gedächtnis der Bearbeiterin hängen bleibe. Doch bei einer nicht mehr vorhandene Erinnerung, bleibt den Obleuten nur die Suche nach anderen Zeugen, die zur Aktenlage passen.

Metaebene: Ungünstige Aufmerksamkeitskurve und erschwerte Arbeitsbedingungen

Journalist_innen wie auch Abgeordnete kontrollieren mit ihrer Arbeit das Handeln der Bundesregierung. Beide Berufsgruppen haben das Privileg, dass sie unabhängig agieren dürfen. Es liegt mir fern, Abgeordnete in ihrer Arbeit zu gängeln oder Journalist_innen in ihrer Arbeitsweise zu kritisieren.

Doch entlang eines Untersuchungsausschusses, den die Regierungspartei zunächst nicht haben wollte, rutschen relevante Erkenntnisse und Fragestellungen immer wieder aus der Wahrnehmung, wenn Redaktionen aus ökonomischen Erwägungen nicht dauerhaft Korrespondent_innen stellen.

Die Aufmerksamkeit auf der Besuchertribüne scheint oft einkalkuliert. Teils subtil, teils plump, wie durch einen Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss geschehen. Rechtzeitig für den Andruck eines Zeitungstitels, zog dieser im Januar 2015 ein vorzeitiges Fazit. Mitunter kreisten Befragungen exakt bis zu dem Zeitpunkt um mehr belanglose Aspekte, bis sich eine angekündigte Besuchergruppe einfand.

Derzeit erschwert die Pressestelle des Bundestags der Grafikerin Stella Schiffczyk die Arbeit. Schon im NSA-Untersuchungsausschuss fertigte sie unter dem Pseudonym Veith Yäger Zeichnungen der Zeugen an. In dieser Legislaturperiode wird ihr ein Presseausweis bisher verwehrt, so dass sie sich für die einzelnen Sitzungstage als Tribünengast anmelden muss und erst kurz vor Sitzungsbeginn in Begleitung Zugang zum Bundestag erhält.

Der Artikel ist auf DerFreitag Community erschienen

Video: Daniel Lücking
Pressestatements zur vierten öffentlichen Sitzung zum Untersuchungsausschuss zum Attentat vom Breitscheidplatz am 19.12.2016