Ein Zeuge im Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss lässt tief blicken.
Mit einer Gedenkminute für die Opfer eröffnet der Ausschussvorsitzende Klaus-Dieter Gröhler am Donnerstag die Sitzung des Untersuchungsausschusses im Bundestag: Zum vierten Mal jährt sich an diesem Samstag das Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz, bei dem 12 Menschen starben und mindestens 67 zum Teil schwer verletzt wurden.
Vier Zeugen werden in der dreizehnstündigen Sitzung vernommen. Noch immer fördern die Parlamentarier*innen Versäumnisse der Sicherheitsbehörden zutage. Allen voran erneut das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern. 2016 waren beim dortigen Verfassungsschutz Hinweise einer Quelle aufgelaufen, die auf Anschlagsplanungen in Berlin zu Ramadan hindeuteten.Die selbe Quelle berichtete 2017 dann von möglichen Mitwissern des Anschlags vom Breitscheidplatz.Als die Verfassungsschützer nach dem Anschlag in der Pflicht standen, ihre Erkenntnisse an die Generalbundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt weiterzuleiten, passierte vor allem eines: nichts.
Staatssekretär Thomas Lenz wirkt beratungsresistent, als Benjamin Strasser (FDP) ihm die rechtlichen Grundlagen darlegt, nach denen die Hinweise an die Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten seien. Lenz rechtfertigt, es habe keine tatsächlichen Anhaltspunkte gegeben, und der Verfassungsschutz könne »es fachlich noch vertreten«, die Erkenntnisse nicht weitergeleitet zu haben. Rechtsgrundlagen beeindrucken Lenz dabei wenig: »Ich habe das in 30 Jahren so erlebt, dass sich für jede Aussage irgendein Professor findet, der das anders sieht.« Strasser lässt ihm das nicht durchgehen und erklärt lakonisch: »Das war das Bundesverfassungsgericht.«
Die Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic will wissen, wie es sein könne, dass Verfassungsschutzchef Reinhard Müller weiterhin im Amt ist. Lenz lässt tief blicken. Er habe das nicht zu vertreten. Es sei letztlich der ehemalige Innenminister Lorenz Caffier (CDU) gewesen, der Müller im Amt gehalten habe. Für die Zuschauer*innen bietet sich ein zunehmend abstruses Bild. Lenz hatte sich vergangene Woche im Landtag in Schwerin selbst verteidigt. Fehler sucht er in erster Linie bei den Berliner Behörden. Doch nicht einmal sein CDU-Parteikollege Alexander Throm lässt ihm diese Darstellung durchgehen. Lenz gerät immer mehr in die Defensive und diskreditiert erneut den ehemaligen Verfassungsschützer und Whistleblower T.S., der 2019 die Versäumnisse seiner Behörde an die Generalbundesanwaltschaft gemeldet hatte. Ganz nebenbei erfährt das Publikum durch Lenz Interna wie die eigentlich geheim zu haltende Zahl der Stellen beim Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern.
Ein Innenministerium trollt den Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss
Es ist schon der zweite Anlauf, den der Verfassungsschutzchef des Landes Mecklenburg-Vorpommern zum Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss nimmt. Nachdem sein erster Auftritt Ende November einer Aussageverweigerung glich und ihm ein Ordnungsgeld drohte, hatte das Innenministerium vermeintlich ein Einsehen und gewährte eine großzügigere Aussagegenehmigung.
Reinhard Müller sollte zu Hinweisen aussagen, die Mitarbeiter seiner Behörde im vergangenen Jahr direkt an die Generalbundesanwaltschaft gegeben hatten. Er wurde brüskiert und zeigt sich unzufrieden damit, dass ein Meldeweg an ihm vorbei gewählt wurde. Schon vor dem Anschlag am Breitscheidplatz und auch kurz danach gab es Hinweise, die auf Anschlagspläne und eine Unterstützung des Attentäters Anis Amri durch eine Berliner Familie hindeuteten, die dem Bereich der organisierten Kriminalität zugerechnet wird. Geld und Fluchtfahrzeug, eventuell auch die Tatwaffe, sollen aus den Kreisen einer arabischen Großfamilie stammen.
Verfassungsschützer Müller hatte diese Hinweise als nicht glaubwürdig eingestuft und entschieden, auch nach dem Anschlag die Ermittlungsbehörden nicht einzuschalten. Dazu wäre er laut Verfassungsschutzgesetz verpflichtet gewesen, da bereits eine Straftat begangen worden war. Die Hinweise die vor der Tat eingegangen sind, aber als unglaubwürdig galten, haben sich schlussendlich bewahrheitet. Einsicht zeigt Müller nicht, jedoch würde er diese Hinweise künftig weitergeben. All das sei »Ärger, den man sich hätte ersparen können«, äußert Müller.
Mit seiner in weiten Teilen widersprüchlichen, langwierigen und ausweichenden Aussage konnte Müller im Untersuchungsausschuss erneut nicht überzeugen und strapazierte die Geduld der Abgeordneten und des Publikums. Mehrfach versuchte er aus einem eingestuften Dokument zu zitieren und konnte weder durch den Landesvertreter Berlins, noch durch den Ausschussvorsitzenden Klaus-Dieter Gröhler (CDU) in seinem Rededrang gestoppt werden. Erst eine Intervention der Landesvertreterin Mecklenburg-Vorpommerns, Yvonne Mathiske, lies Müller erkennen, dass er unbeabsichtigt auf dem Weg war, selbst zum Whistleblower zu werden.
Kalaschnikow im Tresor
Durch die Aussagen der Quellenführer A.B. und T.S. war Verfassungsschutzchef Müller unter Druck geraten. In nicht-öffentlicher Sitzung hatten die Beamten zu Protokoll gegeben, ihnen sei untersagt worden, die Hinweise der Quelle auf den Attentäter Anis Amri und dessen Verbindungen schriftlich niederzulegen. Müller bestreitet das wenig überzeugend, da er sich in Widersprüche verstrickt und kaum stringent aussagt.
Wie schon Ende November zeigt Müller auch in dieser Sitzung Lücken, wenn es um die gesetzliche Grundlagen seiner Arbeit geht. Befugnisse und Pflichten, die die Parlamentarier unterschiedlicher Fraktion mit ihm besprechen, sieht er eher als »Auslegungssache« und »Führungsentscheidungen« an. Müller muss auch erklären, was es mit einer tschechischen Kalaschnikow auf sich hat, in deren Besitz seine Behörde gelangt ist. Eine Kriegswaffe, die unbrauchbar gemacht wurde und nun als Dekorationswaffe gilt, beschäftigt über weite Teile die Parlamentarier*innen.
Unter den Augen der rund 30 Menschen auf der Zuschauertribüne stellt Müller zunächst unter Beweis, dass er den Unterschied zwischen einer Dekorationswaffe und einer Anscheinwaffe offenbar nicht kennt. Martina Renner (Linke) erläutert, dass eine Dekorationswaffe eine echte Waffe ist, die unter Umständen wieder funktionsfähig gemacht werden kann, während eine Anscheinwaffe nie dazu geeignet war, überhaupt ein tödliches Geschoss abzufeuern. Müller streitet das ab und wirkt nicht in der Lage den Unterschied und die Relevanz zu erkennen.
Renner erläutert, dass Dekorationswaffen, die wieder funktionsfähig gemacht wurden bei den Anschlägen in Paris auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und das Bataclan-Konzerthaus 2015 genutzt wurden. Sie vermutet, dass es in der Region Rostock einen relevanten Schwarzmarkt gibt, der gleichermaßen Dschihadisten, wie auch Rechtsradikale mit Waffen versorgt. Müller habe davon noch nichts gehört.
Weitere Fragen zur Kalaschnikow hatte der Landtagsabgeordnete Dirk Friedriszik (SPD) am Mittwochabend aufgeworfen, als er in einer offiziellen Anfrage auf diese Waffe und ihren möglichen Einsatz bei den Anschlägen von Paris hinwies. Müller verstrickt sich in Widersprüche. So behauptete er, ihm sei seit Sicherstellung der Waffe »irgendwann vor 2017« klar gewesen, dass diese Waffe nicht funktionsfähig sei. Ein Gutachten dazu hatte Müller aber erst nach dem Whistleblowing-Vorfall Ende 2019 durch das Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern auf anraten des Staatssekretärs Thomas Lenz erstellen lassen.
Vom Verbleib der Waffe, die sich nach seiner Aussage in einem Tresor im Landesamt für Verfassungsschutz befunden habe, will er nichts wissen. Müllers Einlassung wirkt wie eine Ausrede, denn er kann weder den Ort, noch den für den Tresor zuständigen Mitarbeiter oder die Abteilung benennen. Nach mehreren ausweichenden Antworten verstrickte er sich zusehends in Widersprüche. »Gucken Sie in ihr Eingangsstatement! Da steht es ganz anders drin!«, ruft der CDU-Abgeordnete Alexander Throm in die immer weiter abgleitende Aussage Müllers.
Als nach mehreren Stunden dann die Aussage endet, ist Müllers größte Sorge, ob der Ausschuss weiterhin plant, ein Ordnungsgeld gegen ihn zu verhängen. Der Ausschuss prüfe weiterhin, versichert der Ausschussvorsitzende Gröhler. Müller nutzt einen letzten Moment der Aufmerksamkeit und diskreditiert die Zeugen, die die unliebsamen Hinweise vorgebracht haben mit dem Hinweis, der Ausschuss solle doch einmal prüfen, welchen Hobbies und Aktivitäten A.B. und T.S. »in ihrer Freizeit so nachgehen« würden.
Im Breitscheidplatzuntersuchungsausschuss bahnt sich eine Affäre an
Im Untersuchungsausschuss zum Attentat vom Breitscheidplatz gelang dem Behördenleiter Reinhard Müller etwas, das es so in fast drei Jahren Ermittlungsarbeit nicht gegeben hat. Der Ausschuss prüft die Verhängung eines Ordnungsgeldes und reagiert damit auf das unkooperative Verhalten des Landesamtes für Verfassungsschutz LfV aus Mecklenburg-Vorpommern.
Dass dieser Donnerstag kein einfacher Sitzungstag werden würde, kündigte sich schon in der Vorbereitung an. Der Chef des LfV aus Schwerin wollte nur in nicht-öffentlicher Sitzung im Bundestag aussagen. Unüblich, insbesondere für Leitungspersonen in Behörden, deren Verantwortungsbereich eigentlich weit genug weg von konkreten Sachverhalten ist, die eine Gefährdung von Personen oder Quellen mit sich bringen. Erst auf Druck von FDP, Grünen und Linken wurde eine öffentliche Vernehmung angesetzt, die im Untersuchungsausschuss eigentlich die Regel ist.
Verweigerungshaltung
Reinhard Müller aber mauert. Zur Seite stehen ihm die erst kürzlich mit diesem Aufgabenbereich betraute Juristin Yvonne Mathiske als Vertreterin des Landes Mecklenburg-Vorpommern und der Rechtsbeistand Butz Peters, der sich auf Untersuchungsausschüsse spezialisiert hat. Die Interventionen der Juristin Mathiske beginnen unmittelbar mit den ersten Fragen der Parlamentarier*innen. Selbst zu einfachsten Sachverhalten aus der Verfassungsschutzarbeit soll Zeuge Müller keine Stellung nehmen dürfen. Seine Aussagegenehmigung verbiete es, über Personalangelegenheiten zu sprechen. Auf die Belehrung durch Martina Renner (Linke), die der Juristin erklärt, dass lediglich Angaben zu Urlaubs- oder Krankheitszeiten, nicht aber zu dienstlichem Handeln verweigert werden könnten, reagiert Mathiske sichtlich genervt. Reihum kritisieren die Obleute die ausufernde Verweigerungshaltung. »Dann interveniere ich bei der nächsten Frage«, kündigt Mathiske an.
Zeuge Müller folgt dem Beispiel und sieht sein Verhalten von der Aussagegenehmigung gedeckt. Die Rechtsauffassung der Obleute und des stellvertretenden Ausschussvorsitzenden Mahmut Özdemir (SPD), der Müller mehrfach belehrt und auf die Zeugenpflichten hinweist, kümmern Müller nicht. »Ich kann, möchte und will und darf nicht in öffentlicher Sitzung zu den Inhalten Stellung nehmen«, sagt der Behördenleiter und verweigert Angaben zu Entscheidungsketten und dienstlichen Begebenheiten, ohne die kein Untersuchungsausschuss ermitteln kann.
Die wenigen Sachaspekte, die erörtert werden, zeigen ein mehr als fragwürdiges Rechtsverständnis. Müller soll den Parlamentarier*innen erläutern, wie seine Behörde zu der Einschätzung kam, nach dem Attentat wesentliche Informationen nicht weiterleiten zu müssen. Anis Amri, so hatte eine Quelle des LfV in Schwerin in Erfahrung gebracht, soll Verbindungen in Berliner Clanstrukturen gehabt haben. Dort sei man sowohl über die Anschlagspläne informiert, als auch an der Flucht nach der Tat beteiligt gewesen.
Nach den Darstellungen Müllers sei das LfV zur Einschätzung gekommen, diese Hinweise seien nicht hinreichend belegt und unglaubwürdig. Martina Renner will wissen, wie Müller zur Rechtsauffassung gekommen ist, dass das LfV im Februar 2017 seine Hinweise nicht an das Bundeskriminalamt und den Generalbundesanwalt hätte weiterleiten müssen. Längst war der Anschlag passiert und 12 Menschen waren ermordet worden. Rechtlich ist das Verfassungsschutzgesetz in diesem Punkt eindeutig und fordert in Mordfällen die Weiterleitung aller verfügbaren Informationen an die Strafverfolgungsbehörden. Müller vertritt die Auffassung, dies sei beim Verfassungsschutz schon einmal gerügt worden und seine Behörde würde nur noch dann Informationen weitergeben, wenn diese inhaltlich geprüft und für relevant befunden worden sind.
Müller bleibt uneinsichtig, wirft den Parlamentarier*innen vor, diese seien ihm gegenüber voreingenommen und hätten aus geheimen Sitzungen Informationen an die Presse gegeben. »Das hat es in über 100 Sitzungen hier nicht gegeben«, kommentiert Benjamin Strasser (FDP) die Verweigerungshaltung, selbst auf die einfache Frage, wie viele Mitarbeiter in Müllers Behörde im Bereich Islamismus tätig sind. Niemand erwartet eine detaillierte Angabe zur genauen Zahl der Dienstposten, jedoch mindestens die übliche Eingrenzung auf »eine Zahl im hohen einstelligen Bereich«, die bei geheimhaltungsbedürftigen Arbeitsbereichen akzeptiert wird.
Frage um Frage entwickelt das Sitzungsgeschehen abstruse Züge. »Sind Sie als Person zu einer eigenen Bewertung gelangt? Ja oder nein?«, will Fritz Felgentreu (SPD) wissen. »Ich verweise auf meine zuvor gegebenen Antworten«, entgegnet Müller. »Sie haben aber keine Antwort gegeben«, bricht auch der SPD-Obmann Felgentreu schließlich den Befragungsversuch erfolglos ab.
Unbelehrbar
Nach mehreren Beratungssitzungen ändert sich an der Verweigerungshaltung Müllers und dem unkooperativen Verhalten der Juristin Mathiske nahezu nichts. Durch Aktenvorhalte muss Müller jedoch einräumen, dass das LfV sowohl vor als auch nach dem Anschlag Bezüge zum Fall Anis Amri gehabt hat. Gegen 23 Uhr 45 entscheiden die Parlamentarier*innen, die öffentliche Vernehmung des Zeugen abzubrechen und stimmen für die Verhängung eines Ordnungsgeldes. In den nächsten Tagen werden die Wortprotokolle der rund dreistündigen Vernehmung auf die Inhalte geprüft, bei denen Zeuge Müller zur Auskunft verpflichtet war wie zahlreiche Zeugen im Untersuchungsausschuss zuvor.
Für Martina Renner war der Abend vor allem ein Einblick in die Arbeitskultur der Behörde: »Das, was Behördenleiter Müller hier heute aufgeführt hat, kann nur mit Respektlosigkeit gegenüber dem Parlament beschrieben werden.« Es sei deutlich geworden, dass Müller nicht nur Rückendeckung auf der Behördenebene habe, sondern auch innerhalb der politischen Führung des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Neben dem Breitscheidplatz zeige das dortige Innenministerium auch beim Rechtsterrorismus des NSU, der Gruppe Nordkreuz und beim illegalen Waffenhandel eine ähnlich problematische Behördenkultur auf. Grünenpolitikerin Irene Mihalic bezeichnete das Aussageverhalten Müllers als Frontalangriff auf die parlamentarische Kontrolle. »So kann man mit einem Parlament nicht umgehen, dass zulässig Fragen in einer öffentlichen Sitzung stellt. Das ist nicht nur ein Affront, sondern behindert auch die Aufklärung maximal«, kritisiert Mihalic.
Für Müller ist es mit einem Ordnungsgeld jedoch nicht getan. Bereits am 10. Dezember 2020 plant der Untersuchungsausschuss eine erneute Vernehmung. Dann werden neben Müller auch der Parlamentarische Staatssekretär des Innenministeriums Thomas Lenz (CDU), ein weiterer Vertrauenspersonenführer und der kürzlich aufgrund einer Waffenkaufaffäre zurückgetretene Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns Lorenz Caffier (CDU) geladen.
BKA-Chef Holger Münch und sein BND-Amtskollege Bruno Kahl haben im Bundestag zum Amri-Anschlag ausgesagt
Als vor zweieinhalb Jahren die Strategie für die Aufarbeitung des Attentats vom Breitscheidplatz für den Untersuchungsausschuss im Bundestag festgelegt wurde, entschieden sich Parlamentarier*innen auf Druck der Regierungsmehrheit für ein chronologisches Vorgehen bei den Ermittlungen. 107 Sitzungen später und fast vier Jahre nach dem Anschlag standen nun Präsident Holger Münch und Amtskollege Bruno Kahl für das Handeln von Bundeskriminalamt BKA und Bundesnachrichtendienst BND ein.
Beide Präsidenten entschuldigten die Fehler ihrer Mitarbeiter*innen. Bruno Kahl sprach von Demut, die angesichts des nicht verhinderten Anschlages gegenüber Opfern und Hinterbliebenen zu zeigen sei. Das Versagen ist besonders beim BKA eklatant.
»Der Ausbau der Ermittlungskapazitäten hat in diesem Jahr so richtig begonnen«, sagte BKA-Präsident Holger Münch. Er kann auch jetzt nicht ausschließen, dass vergleichbare Anschläge verübt werden. Doch nun sei das BKA besser aufgestellt. Neben der seit mehreren Jahren hohen Gefährdung durch Dschihadist*innen fordert auch der wachsende Rechtsextremismus das BKA. Zum Anschlag vom Breitscheidplatz gibt es auch Jahre danach reichlich unaufgeklärte Aspekte.
Aus Sicht von Münch handelt es sich bei vielen Fragen der Abgeordneten um Detailfragen, zu denen die Mitarbeiter*innen Stellung nehmen müssten. Die Namen der Topgefährder*innen auf der 123er-Liste, die dem Ausschuss vorliegt, sagen Münch nichts. Einen möglichen Waffenumschlagspunkt in Rostock, an dem Rechtsextremist*innen und Dschihadist*innen ihre Waffen beziehen, hält Münch für möglich, wirkt aber so, als sei ihm eine solche Option erstmals präsentiert worden. Man müsse den Weg der Waffen durch Europa nachverfolgen, räumte Münch auf Nachfragen von Martina Renner (Linke) ein. Nur seine wortreichen Ausführungen verhindern, dass Münch so phlegmatisch wirkte, wie es die offen gelegten Unzulänglichkeiten eigentlich mit sich bringen.
Warum die europaweite Fahndung nach dem Täter erst so spät ausgelöst wurde, konnte Münch dem Ausschussvorsitzenden Klaus-Dieter Gröhler (CDU) nicht darlegen. Für die Grünen suchte Irene Mihalic nach Antworten. »Es tut mir leid, Herr Münch, von keinem BKA-Zeugen habe ich die bisher bekommen.« Die Liste der Fragen ist lang. Kein BKA-Beamter stellte dem zwischenzeitlich als Mithelfer verdächtigten Bilel ben Ammar die wesentliche Frage, wo dieser in den zehn Tagen nach dem Anschlag abgetaucht war. Unerklärlich – aber das wolle das BKA nachreichen – bleibt auch, wie der Täter Anis Amri während der Fahrt im Lkw mit seinen Handys navigierte und Kontakt zum libyschen Unterstützer MouMou1 hielt. Eine Sim-Karte war in keinem der zurückgelassenen Handys enthalten.
Dennoch beruft sich das BKA auf ein Bewegungsprofil, das von einem der beiden Geräte stammen soll. Dies sei ab Oktober 2016 bis zum Anschlagsabend lückenlos. Wie das gelungen sein soll, obwohl das Gerät zuletzt Tage vor dem Anschlag eine Internetverbindung hatte, kann das BKA weiterhin nicht erklären.
Auch Bruno Kahl machte wenig schlüssige Angaben zu Details, die in seiner Behörde rund um den Anschlag passierten. Hinweise vom marokkanischen Geheimdienst auf Anis Amri landeten zunächst beim Verfassungsschutz statt bei den für Strafverfolgung zuständigen Polizeien. Eine Erklärung dafür hat Kahl nicht. Er ging von einem Automatismus aus, dass der Verfassungsschutz schon weiterleiten würde. Warum dennoch Mitarbeiter*innen seiner Behörde vier Wochen vor dem Anschlag eine Handyortung von Amri vornahmen, erklärte Kahl dürftig und spekulativ.
SPD-Obmann Fritz Felgentreu kritisierte: »Unsere Ermittlungsarbeit hat ergeben, dass beide Behörden eigentlich ganz zufrieden damit waren, dass sie mit Amri nicht zu viel zu tun hatten.« Das BKA habe jede Gelegenheit ungenutzt gelassen, für den gefährlichen Amri mehr Verantwortung zu übernehmen.
Holger Münch (Präsident BKA)
Zu den skandalträchtigen Unterlassungen des BKA zählt, dass man dem Hinweis auf ein Leck bei der Berliner Polizei nicht nachgegangen ist. Der Rechtspopulist Lutz Bachmann hatte wenige Stunden nach dem Anschlag eine Meldung über Twitter verbreitet, die angeblich aus Polizeikreisen stammte. Der Inhalt: Eine Beschreibung des Attentäters als »tunesischer Moslem«. Auch Bachmann sagte an diesem Tag aus und schilderte, ein Anrufer mit Berliner Dialekt habe diese Mitteilung telefonisch übermittelt und über einen anonymen SMS-Dienst noch einmal übersendet. Weder SMS noch Anrufprotokoll sind noch vorhanden.
Bachmann hatte zwischenzeitlich, angeblich auch wegen des Drucks der Presse, von der Aussage des Tweets Abstand genommen, die er nun wieder vollumfänglich so erhalten haben will. Immerhin gab es zu diesem Hinweis nun Ermittlungen. Nur eben wieder nicht durch das BKA.
Fast zwei Jahre ist es her, dass im Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss des Bundestags ein Eklat die Gemüter erhitzte. Nach rund einem halben Jahr war aufgefallen, dass als Vertreterin der Bundesregierung ausgerechnet die ehemalige Verfassungsschützerin Frau E. H. im Ausschuss aktiv war. Frau H. war erst kurze Zeit im Innenministerium eingesetzt und kam aus einer Abteilung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, deren Arbeit große Überschneidungen mit dem Thema hatte.
»Jemanden mit einem solchen Insiderwissen zu entsenden, widerspricht den Verfahrensgrundsätzen und Regeln für Untersuchungsausschüsse«, sagt Martina Renner, die für die Linksfraktion als Obfrau im Ausschuss arbeitet. Dennoch will sie Frau H. keinen Vorwurf machen. »Wahrscheinlich trifft Frau H. persönlich keine Schuld. Ihre Entsendung dürfte von ihren Vorgesetzten im Innenministerium forciert worden sein.« Von Vorgesetzten, denen entweder Absicht unterstellt werden kann oder denen es an Problembewusstsein mangelt. »Uns trat das Ministerium mit einer Mischung aus Arroganz, Ignoranz und Respektlosigkeit entgegen. Ein Problembewusstsein war in keiner Weise erkennbar«, beschrieb Fritz Felgentreu, Obmann der SPD, damals das Auftreten der verantwortlichen Beamten.
Zeugin E. H. sagte am späten Donnerstagabend nun zu ihrer Tätigkeit aus. Als Referatsleiterin sei sie zuletzt im Bundesamt für Verfassungsschutz eingesetzt gewesen. In der Vorbereitung auf den Ausschuss habe sie beim Aktenstudium nur ganz wenige Bezüge zum Fall gefunden. Teilweise sei es nur der Vorname »Anis« gewesen, erklärt Zeugin E. H. vor den Parlamentariern. Zweifel bleiben dennoch, denn Anis Amri dürfte H. durchaus in ihrer Arbeit begegnet sein. »Wer sich mit dem Fall Boban S. im Rahmen des Abu-Walaa-Verfahrens befasst hat, dem ist Anis Amri quasi in die Akten gelaufen«, ordnet Renner ein. Die technischen Möglichkeiten, für die der Verfassungsschutz immer wieder Budgetaufstockungen erhalten hat, lassen sich für die Visualisierung von Kontaktnetzwerken und Themenkomplexen nutzen. »Diese Techniken sind seit Jahren im Einsatz und Teil der Aktenführung«, so Renner.
Nach dem Anschlag arbeitete Zeugin H. dicht am Fall. Sie fertigte Gesprächszettel für die parlamentarische Staatssekretärin im Innenministerium an, beantwortete Kleine Anfragen aus dem Parlament und stellte auch die Akten für den Untersuchungsausschuss zusammen, dem stets handverlesene Dokumente vorgelegt werden, die einen umfassenden Schwärzungsprozess durchlaufen haben. Ihre vorangegangene Tätigkeit im Bundesamt für Verfassungsschutz wirkt doppelt belastend, da das Innenministerium, aber auch der damalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen in öffentlichen Äußerungen ein problematisches Bild zeichneten. So hieß es von Thomas de Maizière, die einzige Bundesbehörde, die mit dem Fall des Attentäters je befasst war, sei das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gewesen. Maaßen gab sich alle Mühe den Eindruck zu erwecken, ausschließlich die Polizeien der Länder seien im Vorfeld mit dem Fall des späteren Attentäters befasst gewesen.
Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss: Bundesanwalt sagt über brisantes Vieraugengespräch aus
Ein vertrauliches Gespräch zwischen zwei Personen beschäftigte erneut die Abgeordneten im Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss des Bundestages in der letzten Sitzung vor der Sommerpause.
Verblüffte Stille machte sich im Europasaal im November 2019 breit, als Kriminalhauptkommissar KHK R. M. vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen aussagte. Viele Zeugen hatten bereits Dinge ausgesagt, die aus den Landesuntersuchungsausschüssen in Berlin und Düsseldorf bekannt waren. Doch KHK M. steuerte im Bundestag etwas bei, das eben auch nur auf Bundesebene besprochen und untersucht werden kann. M. berichtete von einem Vieraugengespräch, das er mit dem Ersten Kriminalhauptkommissar EKHK Philipp Klein vom Bundeskriminalamt am 23. Februar 2016 geführt hatte und erhob schwere Anschuldigungen. So habe Klein ihm damals vermittelt, dass Murat Cem, der als Kronzeuge im Verfahren gegen den IS-Statthalter in Deutschland galt, zu viel Arbeit mache. Es hätte auch eine Anweisung aus der Führungsebene des Bundesinnenministeriums gegeben, Murat Cem »kaputtzuschreiben«, denn er mache zu viel Arbeit. Cem hatte frühzeitig Hinweise geliefert, dass es sich bei späteren Attentäter Anis Amri um einen anschlagsbereiten Dschihadisten handelte.
Das Vieraugengespräch fand nach einer Sitzung in Karlsruhe statt, die durch den Generalbundesanwalt Salzmann einberufen worden war. Salzmann sagte am Donnerstag dazu aus, dass diese damals Sitzung nötig geworden sei, weil das Bundeskriminalamt in einem geheimen Papier Anfang Februar 2016 schwere Vorwürfe gegen Murat Cem erhoben hatte. Es sei unwahrscheinlich, das eine Vertrauensperson zu zwei Anschlagsplanungen Informationen liefern könne, argumentierte das Bundeskriminalamt energisch auch in der Sitzung. Für die Ermittler aus Nordrhein-Westfalen hielt vor allem KHK M. die Erfolgsbilanz der Vertrauensperson VP-01 Murat Cem vor. Auch Beamte des polizeilichen Staatsschutzes argumentierten für die Glaubwürdigkeit der Informationen. Die unterschiedlichen Bewertungen waren vor allem ein Problem für die Bundesanwaltschaft, die auf den Angaben Cems ihr Verfahren gegen den Statthalter des Islamischen Staates in Deutschland, Abu Walaa, aufgebaut hatte. »Es ist aber schon der Eindruck entstanden, hier stehen die zwei BKAler gegen den Rest der Welt«, beschrieb Bundesanwalt Salzmann den Abgeordneten die Atmosphäre in der Besprechung. Vom Vieraugengespräch selbst habe Salzmann nichts mitbekommen, aber er erinnere sich daran, dass er im Nachgang davon erfahren habe.
Ermittler KHK M. war durch die nicht sachgerechten Anweisungen, die er im Vieraugengespräch erhalten hatte, mehr als irritiert und wandte sich am selben Abend, am Rande eines Essens, zunächst an die Oberstaatsanwältin Claudia Gorf, die ebenfalls an der Sitzung teilgenommen hatte. Sie riet dem aufgebrachten KHK M., das Vieraugengespräch auch dem Bundesanwalt Salzmann zu berichten. Für Salzmann, der sich an das Gespräch mit KHK M. noch erinnert, war der Vorfall zunächst in Vergessenheit geraten, als das Bundeskriminalamt die konträren Einschätzungen zur Glaubwürdigkeit der Vertrauensperson Cem korrigiert hatte.
Mehr als vier Jahre nach dem fragwürdigen Vieraugengespräch ist die Rücksprache mit den Bundesanwälten der Hauptaspekt, der für die Darstellung des KHK M. spricht. Nicht nur Gorf und Salzmann, sondern auch Oberstaatsanwalt Dieter Killmer haben mittlerweile vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages ausgesagt. Die Bundesanwälte trugen dabei sehr differenziert vor, grenzten eigene Erinnerungen von dem ab, was über die Aussage von KHK M. in den Medien berichtet wurden und kamen einhellig zu dem Schluss, dass es keine Erklärung dafür geben könne, dass KHK M. ein derartiges Vieraugengespräch Monate vor dem Anschlag vom Breitscheidplatz erfunden haben könnte.
Weitere Indizien für die Stichhaltigkeit der Aussage von KHK M. hatte ausgerechnet Philipp Klein mit seiner Aussage im Dezember 2019 geliefert. Klein fiel in seiner Aussage durch allerlei semantische Pirouetten, Wortklaubereien und Wiederholungen auf. Letztlich räumte er ein, dass er ein Vieraugengespräch – vielleicht auf dem Weg zur Toilette oder die Treppe hinunter – nicht ausschließen könne, dementierte aber die von KHK M. geäußerten Inhalte vehement. Auch Kleins hitzige Kommentierungen der Sitzung in Karlsruhe, die als Beweisstücke in Form von E-Mails vorliegen, diskreditieren die BKA-Darstellung.
Die Spurensicherung am Tatort erweist sich im Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss erneut als schlecht dokumentiert. Der Fall Amthor wirft Fragen auf
Es gibt nur wenige Wochen im Jahr, in denen der Untersuchungsausschuss zum Attentat vom Breitscheidplatz so viel Aufmerksamkeit erfährt wie in der vergangenen Woche. Dabei ging es jedoch nur am Rande um das, was im Europasaal im Bundestag durch Zeugenbefragungen ermittelt wird. Die Affäre um Philipp Amthor (CDU), der wegen Lobbyismus und Korruptionsvorwürfen aus dem Ausschuss ausschied, ist noch nicht abschließend beurteilbar. Amthor werden intensive Kontakte zu Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen und Ex-BND-Chef August Hanning nachgesagt, die im Konflikt mit seiner Ausschussarbeit stehen könnten. Diese ist vordergründig leicht zu überblicken, denn Amthors Sitzungsteilnahmen in den zweieinhalb Jahren seit Beginn des Ausschusses lassen sich an einer Hand abzählen. Es bleibt zu klären, ob Amthor ausgerechnet an den Sitzungen teilnahm, die im Zusammenhang mit dem deutlich verstrickten Verfassungsschutz zu tun hatten, der seinerzeit Maaßen unterstand.
Die Baustellen rund um die noch notwendigen Zeugenvernehmungen wachsen stetig an. Der mutmaßlich aus Ermittlerkreisen bestens informierte und einschlägig vorbestrafte PEGIGA-Gründer Lutz Bachmann konnte wegen der Corona-Beschränkungen nicht aus Teneriffa anreisen.
Murat Cem, der als Vertrauensperson VP-01 die Ermittler des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen frühzeitig vor dem späteren Attentäter Anis Amri warnte, soll auf Geheiß von NRW-Innenminister Herbert Reul nicht aussagen. Reul führt Zeugenschutzgründe an, die für den Untersuchungsausschuss nur schwer nachvollziehbar sind. Seit Murat Cem mit der Buchveröffentlichung von »Undercover – ein V-Mann packt aus« nicht nur wesentliche Teile seiner Aussage vorweg nahm, sondern auch die Öffentlichkeit suchte, setzte sich dieser selbst der Gefahr der Identifizierung aus. Reul schlägt vor, der Ausschuss möge Fragen übersenden, die dann schriftlich beantwortet werden könnten. Dem Bundestag stehen indes mehrere andere Möglichkeiten zur Verfügung. Einerseits könnte die Vernehmung von Murat Cem in einer geheimen oder in einer nicht öffentlichen Sitzung erfolgen. Andererseits haben vergleichbare Ausschusssitzungen auch schon mit einer Videoübertragung stattgefunden, so dass der Öffentlichkeitsgrundsatz gewahrt und der Zeugenschutz gewährleistet werden konnte. Im Sitzungsgeschehen am vergangene Donnerstag ging es erneut um die Versäumnisse des Landeskriminalamtes Berlin bei der Observation von Anis Amri, sowie um die Tatortarbeit der Ermittler des Bundeskriminalamtes BKA. Amri war über elf Wochen im Jahr 2016 ein priorisiertes Ziel der Observationsteams. Die Gründe, warum er dann aus der Überwachung fiel, konnten die Parlamentarier bisher nicht aufklären.
Die Aussage von Michael Roden, der als Vorsitzender des Schaustellerverbandes Berlin seit mehr als drei Jahrzehnten den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz verantwortet, wirft ein weiteres negatives Licht auf die Tatortarbeit des BKA. Obwohl die Schausteller am Anschlagsabend die Sicherungsmaßnahmen an den einsturzgefährdeten Weihnachtsmarktbuden übernahmen und nach der Tatortfreigabe durch die Polizei die Aufräumarbeiten vorgenommen hatten, wurden von ihnen keine Zeugenaussagen aufgenommen.
Aufgefallen ist das erst kurz vor dem dritten Jahrestag des Anschlages, als der neue Ausschussvorsitzende Klaus-Dieter Gröhler mit Michael Roden ein Treffen mit den Obleuten vereinbarte. Mittlerweile hat das Bundeskriminalamt die Zeugenaussage aufgenommen. Roden war wohl die erste Person, die nach dem Anschlag die Fahrerkabine des Lastwagens betreten hatte. Auf seine Initiative wurden auch Luftaufnahmen mit einer Kameradrohne angefertigt, die den Tatort zeigen. In seiner Aussage gab Roden auch zu Protokoll, den Schaustellern sei bereits in der Woche vor dem Anschlag eine erhöhte Polizeipräsenz am Breitscheidplatz aufgefallen, wie es sie in den Jahren zuvor nicht gegeben hatte.
Weitere Hinweise könnte es auch vom Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern geben. Nach Angaben eines Mitarbeiters seien Informationen über die Verbindung eines Waffenhändlers zu Anis Amri zurückgehalten worden, weil sie behördenintern als unglaubwürdig galten.
Zeugen des Bundeskriminalamtes sehen ausschließlich Anis Amri als Täter und referieren dann stundenlang über seine zahlreichen Kontakte
Es bedarf viel Spitzfindigkeit, um mit der Aussage »Anis Amri war ein Einzeltäter« noch sachlich richtig zu liegen. Lächerlich macht man sich damit jedoch trotzdem. In der vergangenen Sitzungswoche versuchten sich weitere Zeug*innen des Bundeskriminalamtes vor dem Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag in dieser Disziplin. Längst gilt ihre These als widerlegt.
Gelassen nehmen die Parlamentarier*innen lange Eingangsstatements hin, in denen die Zeugen ihre Sicht der Dinge am Stück schildern dürfen. Detail um Detail wird genannt, um darzulegen, dass man eben doch alles getan haben will, aber die Tat eines »fanatisierten Einzeltäters« letztlich unvermeidbar war. Langatmig fragen die Parlamentarier der Regierungsfraktionen nach immer neuen Details. Ihre üppige Fragezeit gerät nur selten kritisch.
FDP, Grüne und Linke nutzen ihre knappe Befragungszeit und arbeiten Widersprüche der Ermittlungsarbeit heraus. Bilel ben Ammar, der mindestens als Mitwisser und mutmaßlich sogar als Mittäter gilt, wurde vom BKA nur nachlässig vernommen. Kurz nach der Tat war er für zehn Tage verschwunden. »Meiner Meinung nach haben die Kollegen in der Vernehmung alles herausgeholt«, verteidigt Zeuge A.M., Erster Kriminalhauptkommissar und Ermittler im BKA, das Handeln seiner Behörde. Benjamin Strasser (FDP) sieht das anders: »Die naheliegendste Frage hat man Bilel ben Ammar nicht gestellt: Wo waren sie in den letzten zehn Tagen?«
Ermittler A.M. druckst herum, kann sich nicht erklären, wie so etwas passieren konnte. Vielleicht wurde es ja auch einfach nur nicht notiert? Doch der Mangel an Ermittlerambitionen geht schon aus der Länge der Vernehmungen hervor. Ben Ammar wurde an zwei Tagen für jeweils nur drei Stunden vernommen.
Nahezu alle Zeug*innen des BKA verbrachten zwischen drei, sechs und auch mehr Stunden vor dem Ausschuss. Konstantin von Notz und Irene Mihalic konfrontieren die BKA-Zeugen mit immer neuen Aspekten, die zeigen, was die Ermittler nicht beachteten. So fand sich nun ein Video, das den Mann zeigt, der mit Anis Amri kurz vor dem Anschlag noch in der Fussilet-Moschee zusammentraf. Ermittelt und befragt wurde dieser wichtige Zeuge durch das BKA nicht. »Diese Person war wahrscheinlich die letzte, die Amri vor dem Anschlag gesehen und vielleicht sogar mit ihm gesprochen hat«, kritisiert Irene Mihalic. »Es ist überhaupt nicht erklärlich und ein schweres Versäumnis, dass bis heute noch nicht einmal versucht wurde, diese Person zu identifizieren und zu befragen.«
Das höchst widersprüchliche Verhalten Amris, der einerseits hochgradig klandestin agierte, um seine Kontakte zu schützen, andererseits in den Monaten vor dem Anschlag ein Handy mit sich führte, das nahezu lückenlos dokumentierte, wo Amri sich in Berlin-Moabit und Wedding aufhielt, beschäftigte offenbar niemanden im BKA. Ein Handy, das man in der Stoßstange des Lastwagens fand. Wer es dort deponierte, hat das BKA nicht untersucht.
Am Ende seiner Aussage muss Ermittler A.M. die »Einzeltäterthese« darauf reduzieren, dass Anis Amri wohl zum Zeitpunkt der Tat allein gehandelt habe. Ein Zeitraum, der durch die Ermittlungsarbeit im Bundestagsausschuss mittlerweile auf weniger, als eine Stunde zusammengeschrumpft ist. Drum herum finden sich Personen, auf deren Handys Bilder vom Anschlagsort waren, die eine Tatvorbereitung vermuten lassen, der Kontaktmann in der Fussilet-Moschee und Moadh Tounsi. Noch im Lastwagen, mit dem Amri auf dem Breitscheidplatz kurz darauf 11 Menschen tötete, telefonierte er mit Moadh Tounsi, Chatname MouMou1, der als Mittelsmann zum islamischen Staat, gilt. Amri, ein Einzeltäter? Für das BKA kann nicht sein, was nicht sein darf.
Es steht Aussage gegen Aussage im Untersuchungsausschuss
1235 Tage nach dem Attentat vom Breitscheidplatz, bei dem Anis Amri zwölf Menschen tötete, bemühte sich der Untersuchungsausschuss im Bundestag am Donnerstag wieder um die Aufklärung eines mittlerweile offenkundigen Behördenversagens.
Neben vielen offenen Fragen bei der Sicherung der Beweise nach dem Attentat, beschäftigt sich der Ausschuss immer noch mit einer schwerwiegenden Aussage aus dem November 2019. Kriminalhauptkommissar M. vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen hatte die Spitze des Bundesinnenministeriums schwer belastet. Anweisungen von ganz oben habe es gegeben, möglicherweise vom damaligen Minister Thomas de Maizière selbst, gab M. damals zu Protokoll. Er sei in einem Vieraugengespräch ausgebremst worden.
BKA-Polizisten, darunter auch die ranghohen Zeugen Martin Kurzhals und Sven Kurenbach, hätten darauf hin gearbeitet, dem Fall des damals als kleinkriminell verharmlosten Gefährders Anis Amri nicht weiter nachzugehen. Vor allem aber sollte der Hauptinformant von Kriminalhauptkommissar M., Murat Cem, doch endlich aufhören, Hinweise zu liefern, die für Handlungsdruck sorgten.
Den schweren Vorwurf stritten BKA und Bundesregierung damals vehement ab, wirkten geradezu panisch, als sie über Nacht ein Statement ausarbeiteten, das dann in der Regierungspressekonferenz verlesen wurde. Normalerweise wird dort gebetsmühlenartig wiederholt, aus Respekt vor der Ermittlungsarbeit des Parlamentes keine Fragen zu Untersuchungsausschüssen zu beantworten. Nun postulierte man heftig eine andere Sicht der Dinge, in vollem Wissen, dass Aussage gegen Aussage stehen wird und ein Fehlverhalten des BKA nie ganz nachweisbar sein dürfte.
Unisono, und teils mit wortgleichen Einlassungen, verteidigten sechs Monate darauf am Donnerstag die Zeugen Martin Kurzhals und Sven Kurenbach ihr BKA. Nein, ein so verlaufenes Vieraugengespräch könne es nicht gegeben haben. Da müsse »heftig aneinander vorbeigeredet worden sein«. Undenkbar sei auch die Weisung, Murat Cem, der als Vertrauensperson VP-01 zu viele Informationen lieferte, kaltzustellen. »Ich kann Ihnen versichern, dass es niemals eine derartige Weisung von oben gegeben hat. Warum hätte es die auch geben sollen?«, beschließt Sven Kurenbach sein langes Eingangsstatement.
In den kommenden sieben Stunden laviert sich Kurenbach, kooperativ und charmant wirkend, durch die Befragung. »Mit BKA meinen Sie Bundeskanzleramt? … Ich frage nur sicherheitshalber nach, nicht dass ich Fragen beantworte, die mir gar nicht gestellt worden sind«, gibt sich Kurenbach tapsig und nahbar. Sein Kollege Martin Kurzhals schlägt die Brücken aus, die Parlamentarier ihm bauen. Fehler habe es nicht gegeben. Das BKA habe bei der Analyse eben zwischen zwei Einschätzungen entscheiden müssen. Von beiden habe man nicht wissen können, ob sie richtig seien. Letztendlich sei es daher in der Nachbetrachtung des Anschlags weder fair noch möglich, von einer falschen Entscheidung zu sprechen. »Der schreckliche Anschlag hat deutlich gezeigt, dass sich das BKA in der Einschätzung der VP-01 und damit auch in der Gefährlichkeit Amris geirrt hat«, sagt Benjamin Strasser (FDP). Das BKA verstecke sich »hinter einem Schild aus Arroganz und Ignoranz und versucht noch immer, die Fehleinschätzung zu verteidigen«. Der Ausschuss beschloss, Murat Cem zu laden. Seine Darstellung erscheint am 11. Mai als Buch unter dem Titel »Undercover: Ein V-Mann packt aus«.
Abseits der Sitzung berichtete die Süddeutsche Zeitung über einen noch unbekannten Verfassungsschutzbericht aus Mecklenburg-Vorpommern, der Kontakte eines Waffenhändlers zu Anis Amri belege. Martina Renner (Linke) forderte vom verantwortlichen Innenminister: »Herr Caffier sollte jetzt dringend erklären, warum Unterlagen seines Geheimdienstes offenbar nicht an die Ermittlungsbehörden weitergeleitet wurden.«
Der Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag befragt Polizeizeugen, deren Aussagen Stoff für Verschwörungstheorien bieten
Als mit Zeuge Jörg Engel der öffentliche Teil des Sitzungstages
beginnt, ist nur wenig Publikum vor Ort. Engel oblag die Tatortsicherung
am Anschlagsabend. Die dreißig Dienstjahre des Kriminalhauptkommissars
haben ihre Spuren hinterlassen. Engel spricht vom »abflattern« des
Tatortes und kümmerte sich darum, dass Menschen jeweils auf der
vorgesehenen Seite des verwendeten Flatterbandes standen.
Dienstbeflissen hatte er sich an Vorschriften der Tatortarbeit gehalten,
die auch im Jahr 2016 noch vorsahen, ein Tatort dürfe bis zum
Eintreffen der Forensiker am besten gar nicht angerührt werden.
Der FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser fragt, warum nach den Anschlägen in Paris 2015 und dem Anschlag in Nizza 2016, bei denen die Täter Ausweispapiere hinterlassen hatten, nicht umgehend nach solchen gesucht wurde. Zeuge Engel wirkt unsicher. Einerseits war ihm und seinen Teams um 21:45 Uhr klar, dass ein in der Nähe festgenommener Pakistaner nicht der Täter sein konnte. Es wurden keine Blutspuren, keine Splitter oder Verschmutzungen gefunden, die auf die Amokfahrt hätten deuten können. Andererseits suchte Engel nicht nach Hinweisen auf den flüchtigen Täter und wartete »händeringend auf eine Fachdienststelle vom LKA Berlin«.
Martina Renner (Linke) hinterfragt die Kommunikationswege, die an
diesem Abend genutzt wurden, sucht nach Hinweisen, ob Details aus der
Ermittlerarbeit frühzeitig in Chatgruppen besprochen oder über unsichere
Leitungen kommuniziert wurden. Immer noch ist unklar, wie
Pegida-Initiator Lutz Bachmann in einem Tweet am Anschlagsabend
frühzeitig das korrekte Täterprofil benennen konnte. Engel druckst
herum. Chatgruppen gäbe es bei der Polizei sicherlich. Diese hätten aber
rein private Zwecke und würden keine dienstlichen Inhalte umfassen.
»Was anderes kann ich mir auch nicht vorstellen«, meint Engel.
Auch Zeuge T. V., der beim Bundeskriminalamt die Auswertung der Videos vom Anschlagsabend vorgenommen hatte, ist mit Fragen zur Methodik seiner Arbeit konfrontiert. Die Parlamentarier suchen nach einer strukturierten Auswertung des Videomaterials, die T. V. nicht liefern kann. Der Anspruch, jedes Video müsse zunächst zeitlich eingeordnet und dann inhaltlich ausgewertet werden, ist offensichtlich nicht erfüllbar. Den Parlamentarier*innen liegen Aufnahmen vor, deren Laufzeit allein mehrere Monate beträgt. Eine qualitative Auswertung, welche Personen zu sehen sind, wie sich diese in verschiedenen Videos wiederfinden und Rückschlüsse auf die Bedeutung, scheinen nicht möglich.
Die Aussagen zum Tatabend lassen viel Raum für Spekulationen. Die Zeugen, die bisher zu den Abläufen der Ermittlungen aussagten, werfen Fragen auf, die auch zu Fehlschlüssen führen können. Die Aussage, es seien keine Spuren von Anis Amri in der Fahrerkabine gefunden worden – lediglich Fingerabdrücke an der Aussenseite der Fahrertür konnten nachgewiesen werden –, ist eher ein Indiz für die Unvollständigkeit der Ermittlungsunterlagen als ein Beleg dafür, dass es ein anderer Täter gewesen sein müsse. Die Parlamentarier*innen arbeiteten heraus, dass es keinen abschließenden Bericht aller ausgewerteten Spuren gibt. So ist nicht klar, wie viele DNA-Spuren gefunden wurden. Passt das Spurenbild zu einem Lastwagen, in dem mindestens der Fahrer über Wochen und Monate arbeitet und lebte? Wie viele Spuren des mittlerweile anzunehmenden Dutzends von Personen, die allein am Anschlagabend in der Fahrerkabine gewesen sind, wurden gefunden? Wie viele Spuren konnten nicht zugeordnet werden? Es wirkt, als habe man in den Wochen der Auswertung der Spuren das Interesse daran verloren, alle Spuren auszuwerten und nachvollziehbar zu dokumentieren. Bisher ist kein Bestreben der Parlamentarier*innen bekannt, eine kriminologisches Gutachten zur Qualität der Spurensicherung erarbeiten zu lassen, das Inkonsistenzen belegen könnte.
Deutlich wird aber: Die Auswertung aller Beweise ist mit einem
Untersuchungsausschuss, der sich vieles erst gegen Widerstände der
Bundesregierung erstreiten muss, immer weniger leistbar.
Auch das Coronavirus hatte an diesem Donnerstag seinen Weg in den
Bundestag gefunden, ganz ohne infizieren zu können: Der eigentlich
geplante Zeuge des Bundeskriminalamtes A. H. durfte wegen der Pandemie
nicht aus Rom anreisen. Von den verbliebenen drei Zeugen des Tages wurde
in nicht-öffentlicher Sitzung Zeuge Emrah C. vernommen, der als
relevante Führungsperson in der Fussilet-Moschee gilt und der in Kürze
abgeschoben werden soll.