Zeugen des Bundeskriminalamtes sehen ausschließlich Anis Amri als Täter und referieren dann stundenlang über seine zahlreichen Kontakte
Es bedarf viel Spitzfindigkeit, um mit der Aussage »Anis Amri war ein Einzeltäter« noch sachlich richtig zu liegen. Lächerlich macht man sich damit jedoch trotzdem. In der vergangenen Sitzungswoche versuchten sich weitere Zeug*innen des Bundeskriminalamtes vor dem Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag in dieser Disziplin. Längst gilt ihre These als widerlegt.
Gelassen nehmen die Parlamentarier*innen lange Eingangsstatements hin, in denen die Zeugen ihre Sicht der Dinge am Stück schildern dürfen. Detail um Detail wird genannt, um darzulegen, dass man eben doch alles getan haben will, aber die Tat eines »fanatisierten Einzeltäters« letztlich unvermeidbar war. Langatmig fragen die Parlamentarier der Regierungsfraktionen nach immer neuen Details. Ihre üppige Fragezeit gerät nur selten kritisch.
FDP, Grüne und Linke nutzen ihre knappe Befragungszeit und arbeiten Widersprüche der Ermittlungsarbeit heraus. Bilel ben Ammar, der mindestens als Mitwisser und mutmaßlich sogar als Mittäter gilt, wurde vom BKA nur nachlässig vernommen. Kurz nach der Tat war er für zehn Tage verschwunden. »Meiner Meinung nach haben die Kollegen in der Vernehmung alles herausgeholt«, verteidigt Zeuge A.M., Erster Kriminalhauptkommissar und Ermittler im BKA, das Handeln seiner Behörde. Benjamin Strasser (FDP) sieht das anders: »Die naheliegendste Frage hat man Bilel ben Ammar nicht gestellt: Wo waren sie in den letzten zehn Tagen?«

Ermittler A.M. druckst herum, kann sich nicht erklären, wie so etwas passieren konnte. Vielleicht wurde es ja auch einfach nur nicht notiert? Doch der Mangel an Ermittlerambitionen geht schon aus der Länge der Vernehmungen hervor. Ben Ammar wurde an zwei Tagen für jeweils nur drei Stunden vernommen.
Nahezu alle Zeug*innen des BKA verbrachten zwischen drei, sechs und auch mehr Stunden vor dem Ausschuss. Konstantin von Notz und Irene Mihalic konfrontieren die BKA-Zeugen mit immer neuen Aspekten, die zeigen, was die Ermittler nicht beachteten. So fand sich nun ein Video, das den Mann zeigt, der mit Anis Amri kurz vor dem Anschlag noch in der Fussilet-Moschee zusammentraf. Ermittelt und befragt wurde dieser wichtige Zeuge durch das BKA nicht. »Diese Person war wahrscheinlich die letzte, die Amri vor dem Anschlag gesehen und vielleicht sogar mit ihm gesprochen hat«, kritisiert Irene Mihalic. »Es ist überhaupt nicht erklärlich und ein schweres Versäumnis, dass bis heute noch nicht einmal versucht wurde, diese Person zu identifizieren und zu befragen.«
Das höchst widersprüchliche Verhalten Amris, der einerseits hochgradig klandestin agierte, um seine Kontakte zu schützen, andererseits in den Monaten vor dem Anschlag ein Handy mit sich führte, das nahezu lückenlos dokumentierte, wo Amri sich in Berlin-Moabit und Wedding aufhielt, beschäftigte offenbar niemanden im BKA. Ein Handy, das man in der Stoßstange des Lastwagens fand. Wer es dort deponierte, hat das BKA nicht untersucht.
Am Ende seiner Aussage muss Ermittler A.M. die »Einzeltäterthese« darauf reduzieren, dass Anis Amri wohl zum Zeitpunkt der Tat allein gehandelt habe. Ein Zeitraum, der durch die Ermittlungsarbeit im Bundestagsausschuss mittlerweile auf weniger, als eine Stunde zusammengeschrumpft ist. Drum herum finden sich Personen, auf deren Handys Bilder vom Anschlagsort waren, die eine Tatvorbereitung vermuten lassen, der Kontaktmann in der Fussilet-Moschee und Moadh Tounsi. Noch im Lastwagen, mit dem Amri auf dem Breitscheidplatz kurz darauf 11 Menschen tötete, telefonierte er mit Moadh Tounsi, Chatname MouMou1, der als Mittelsmann zum islamischen Staat, gilt. Amri, ein Einzeltäter? Für das BKA kann nicht sein, was nicht sein darf.
Marcus sagt:
Hallo ihr beiden, vielen Dank für eine weitere Folge!
Ich wollte mal die Diskussion eröffnen, wie wahrscheinlich es ist, dass Amri ohne oder mit geringer Fahrerfahrung einen LKW vom Friedrich-Krause-Ufer zum Breitscheidplatz fährt ohne vorher Schäden zu verursachen oder anderweitig aufzufallen.
Zu meiner Expertise: Ich habe einen CE-Führerschein, allerdings eher wenig Fahrerfahrung, da ich kein Berufskraftfahrer bin und ich kenne, wie viele andere, die (möglichen) Fahrstrecken Amris ganz gut.
Warum schreibe ich mögliche Fahrstrecken? Denn hier stelle ich mir schon die ersten Fragen. Ursprünglich nahm ich an, dass Amri die Strecke gefahren sei, wie sie die BZ meldete (https://www.bz-berlin.de/berlin/charlottenburg-wilmersdorf/lkw-anschlag-neun-tote-die-bilder-vom-breitscheidplatz-in-berlin), also Westhafen, Strom- und Bachstraße, Straße 17. Juni, Ernst-Reuter Platz und Hardenbergstraße. Das ist vermutlich falsch, denn die ZEIT schreibt später: „Laut den GPS-Daten des Wagens fährt Amri den Laster durch den Tiergartentunnel, unter dem Regierungsviertel hindurch, am Potsdamer Platz entlang, vorbei an der Neuen Nationalgalerie. Er fährt nicht schneller als 50 km/h, die meiste Zeit langsamer. Dann erreicht er den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Er fährt daran vorbei, die Hardenbergstraße entlang, um den Kreisverkehr am Ernst-Reuter-Platz und dann wieder zurück.“ (https://www.zeit.de/2017/15/anis-amri-anschlag-berlin-terror-staatsversagen/seite-8). Die dichtere Beschreibung, das Datum der Veröffentlichung und die Quelle lassen mir die ZEIT Berichterstattung glaubhafter erscheinen.
Das ist wichtig, weil ein/e LKW Fahrer/in ein wenig anders auf die Strecke blicken muss, als man es mit dem PKW macht. Das heißt, schwierige Situationen sind Abbiegen und schmale Fahrbreiten. Die von BZ beschriebene Strecke ist dahingehend sicherlich einfacher. Einmal links, einmal rechts abbiegen, um den Ernst-Reuter Platz und schon ist man da. Einzig wirklich schwierige Stellen sind das Ende der Bachstraße und je nach Verkehrsaufkommen U-Bahnhof Turmstraße. Dort bestand für Amri vermutlich auch die größte Gefahr vorab gestoppt zu werden. Denn eine schlechte LKW-Fahrleistung fällt vermutlich zuerst anderen LKW- und Busfahrern aus, die ggf. die Polizei rufen. Dennoch, als Fahranfänger hätte ich diese Strecke gewählt.
Im Vergleich die Strecke der Zeit: Auch diese ist zu Beginn einfach (sogar etwas einfacher als die BZ Alternative), wird aber spätestens ab der Potsdamer Straße stressig. Aus der Beschreibung wird nicht klar, ob Amri über das Reichpietschufer oder die Kurfürstenstraße gefahren ist, aber auf beiden Strecke ist an einem Montagabend vor Weihnachten vermutlich einiges los. Rechtsabbiegen am U-Bahnhof Kurfürstenstraße in selbige ist definitiv nichts für Anfänger.
Überhaupt macht die Strecke der Zeit wenig Sinn. Wenn man durch den Tiergartentunnel fährt, warum fährt man dann nicht die Tiergartenstraße über Budapesterstraße zum Breitscheidplatz? Das wäre auch der Routenvorschlag von Google Maps. Vielleicht hatte Amri sich kurz verfahren und ist deshalb über die Neue Nationalgalerie gefahren – Aber passiert das wirklich, wenn man einen Anschlag plant, dass man die Anfahrt versaut? Vielleicht. Komisch ist in jedem fall, dass Amri weder die einfachere, noch die schnellste Route zum Breitscheidplatz nimmt.
Zu meiner generellen Einschätzung, ob man ohne oder mit wenig Fahrpraxis unbemerkt an den Breitscheidplatz kommt: Als LKW-Fahrer/in musst du im Prinzip wissen, dass du breit und lang bist. Wie schwer du bist, ob beladen oder nicht, spielt in diesem flachen Gelände erst mal keine wichtige Rolle. Beim
Geradeaus-fahren schaust du laufend in die Außenspiegel links und rechts um zu prüfen, ob du sauber in der Spur fährst. Das kann man sich sicher anlesen/anyoutuben und auf dem breiteren Teilen der Fahrstrecke üben, aber um Stellen die auch nur ein Ticken enger als die Hardenbergstraße sind sicher zu fahren, brauchst du ein wenig Übung. Ganz zu schweigen vom Abbiegen. Hier musst du dir vor dem Abbiegen links von dir Platz machen, dann ein Vielfaches als du es mit dem Auto gewohnt bist, in die Kreuzung einfahren, um dann rechts abzubiegen. Dabei hast du dann keine Fahrradfahrer und Fußgänger übersehen. Das unbemerkt und unfallfrei als absoluter Anfänger ohne Hilfe hinzubekommen halte ich für ausgeschlossen. Wäre Amri die BZ Strecke gefahren, hätte ich gesagt, vielleicht klappt’s, aber die Tiergartentunnelstrecke, mit Extrarunde um den Weihnachtsmarkt? Das sieht mir eher nach einigen Stunden Fahrschule aus.
Gegen eine Ausbildung Amris sprechen auch nicht die Anfahrübungen vorher am Abend. Ich sehe zwar wenige Probleme für einen Autofahrer einen LKW irgendwie zum fahren zu bewegen, aber gleichzeitig muss sich auch ein/e LKW Fahrer/in mit einem neuen Modell zunächst vertraut machen.
Kurzum, meine bescheidene Meinung ist: Entweder hatte Amri einige Stunden LKW-Praxis oder jemand anderes hat den LKW zumindest bis zur Hardenbergstraße gefahren. Über Einschätzungen anderer Leser/innen hier würde ich mich freuen, schließlich ist meine Erfahrung, wie oben beschrieben, limitiert.
2. Juni 2020 — 14:18
DanielLuecking sagt:
Hallo Marcus,
meine eigene Fahrerfahrung mit LKW ist von der Kilometerzahl gering, aber dennoch anspruchsvoll. Ohne wesentliche Fahrerfahrung konnte ich im Jahr 2000 die Ausbildung zum LKW-Fahrer beginnen. Du beschreibst es korrekt: Das ist keine Raketenwissenschaft. Unmittelbar nach Erlangen des BCE-Scheins wurde ich zum Tankwagenfahrer ausgebildet und fuhr mit 16.000 Liter einer übel schwappenden Dieselsuppe im Rücken durch die Gegend. Später auch über enge Bergstraßen im Kosovo. Da sind Stahlträger wirklich unproblematisch.
Ich gelange zur selben Einschätzung, wie du, was den Fahrweg angeht. Auch Fahrfehler dürften dank des polnischen Kennzeichen eher auf einen „ortsunkundigen Fahrer“ hingedeutet haben, als auf einen Fahranfänger. In der Folge zur Sitzung vom 28.05.2020 habe ich deshalb dazu aufgerufen, die Parlamentarier*innen sollten weder mit Zeugen, noch mit Verschwörungstheoretikern in diese Diskussion einsteigen und lieber einen Tag auf dem Verkehrsübungsplatz mit einem baugleichen Scania-LKW verbringen.
Nicht zuletzt: Der Attentäter wohnte in einer WG mit einem LKW-Fahrer. Da dürften die wesentlichen Handgriffe schnell vermittelt gewesen sein. Das Ermittlungsbehörden aber der Frage nicht weiter nachgegangen sind, ob ein Fahrtschreiber in den Fahrzeugen des Mitbewohners vorhanden war und eventuell im Zeitraum des Berlinaufenthalts des Attentäters Hinweise auf „Fahrübungen“ liefert, ist für mich ein weiterer nicht verfolgter Ermittlungsansatz. Da solche Indizien aber sicherlich nicht ausgereicht hätten, um eine Mitwirkung oder Beihilfe nachzuweisen, lässt sich das sicherlich rechtfertigen.
2. Juni 2020 — 15:06
Marcus sagt:
Hallo Daniel,
hätte ich mir ja denken können, dass y-tours dir einen BCE verpasst hat. Und das gleich mit GefGut, nun ja.
Danke die ausführliche Antwort und für den Hinweis mit dem Mitbewohner, das war mir entgangen. Auch der Aspekt des ausländischen Kennzeichens ist wichtig. Darf ich noch einmal nachfragen: Der von der ZEIT beschriebene Fahrweg ist richtig, bzw. davon geht der Untersuchungsausschuss auch aus, richtig?
Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Fragen stellen sich mir: Woher wusste Amri, dass der LKW-Fahrer von grob 15.00 bis 20.00 Uhr nicht vermisst oder gesucht wird? Er hätte wissen können, dass Fernfahrer sich zum Abladen anmelden und dementsprechend auch auf einem Firmengelände erwartet werden. Viele Fernfahrer werden auch von ihren Disponenten laufend angerufen oder telefonieren mit der Familie. Für eine bis vlt. drei Stunden ist Amri mit dem LKW alleine, danach steigt aber schon die Gefahr, dass einer mal fragt. Hat er das nicht gewusst oder einfach in Kauf genommen? Dieser Verbrecher schien das Glück auf seiner Seite zu haben.
In diesem Sinne, genießt die Sonne,
Marcus
3. Juni 2020 — 14:56
DanielLuecking sagt:
Hallo Marcus,
da liegt einiges im argen. Auch der kurzfristige Auftrag am Beladeort in Italien ein Paket entgegen zu nehmen, bietet Stoff für Spekulationen, denn es war nur unweit des Ortes, an dem der Attentäter wenige Tage danach erschossen wurden. Die Zufälle häufen sich. Ob sich das aber letztlich klären lässt und ob das zur Aufklärung essenziell beiträgt, kann ich nicht einschätzen. Ich will da aber auch nicht weiter spekulieren. Das ergibt sich oder ergibt sich nicht in der Arbeit des Untersuchungsausschusses.
Es gibt viele, viele lose Enden, die in letzter Konsequenz nur massiv Verwirrung stiften. Aus meiner Sicht sollte das Thema des UA sein: V-Leute-Führung in der Islamistenszene.
Beste Grüße
Daniel
3. Juni 2020 — 15:17