Podcast zum 1. Untersuchungsausschuss

Kategorie: Allgemein (Seite 2 von 5)

37. Sitzung am 05.03.2020 – Herr Steiof und die Uhrzeiten

Im Bundestag suchen Parlamentarier nach Antworten und finden neue Fragen an vergangene Zeugen

Parlamentarier und Zuschauer im Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss haben einen langen Tag hinter sich. Vier Zeugen wurden bereits gehört, als gegen 22 Uhr im Bundestag die Vernehmung des Tatort-Ermittlers Thomas Bordasch beginnt, der die erste Spurensicherung am Anschlagsabend begonnen hatte.

Etwa drei Stunden nach der Tat waren die Ermittler vor Ort. Zunächst galt es abzuwarten. Verletzte mussten versorgt und in Krankenhäuser gebracht werden. Polizeikräfte untersuchten die Ladefläche des LKW auf möglich Sprengsätze. Der Lastwagen, der zur Mordwaffe geworden war, wurde dann von fünf Spurensicherungsteams zeitgleich untersucht. Die wenigen Details aus der Ermittlerarbeit in den ersten Stunden auf dem Breitscheidplatz sind nicht nur für Betroffene des Anschlags schwer zu ertragen.

Fragwürdiger Schichtbetrieb

Der 48-jährige Bordasch beschreibt, dass eine Wärmehalle gefunden werden musste, in der der LKW forensisch untersucht werden konnte. Kälte und Feuchtigkeit hätten keine Spurensicherung zugelassen. Daher wurde der Lastwagen in die Julius-Leber-Kaserne am Flughafen Tegel geschleppt. Die Parlamentarier arbeiten sich durch die Abläufe des 19. und 20. Dezembers 2016.

KHK Thomas Bordasch

Für Bordasch war es ein 48-Stunden-Dienst, den er als Teil der sogenannten Mordbereitschaft absolvierte. Das käme schon einmal vor und sei dann eben so. Er schildert Details, erklärt sein Vorgehen, beschreibt Änderungen der Vorgehensweise, die man nach dem Anschlag angepasst habe. Ja, man habe gelernt. Aktuell würde nicht mehr der Spurensicherung Priorität eingeräumt, sondern man suche in der ersten Phase nun gezielt nach Papieren und Belegen für die Identität, die Attentäter immer wieder hinterlassen.

Ein Bekenntnis, das in erster Linie der posthumen Anerkennung, aber auch der Versorgung von hinterbliebenen Angehörigen durch Terroristenorganisationen, wie dem IS dienen soll. Ein Vorgehen, das schon bei Anschlägen in Frankreich im Jahr 2015, wie bei der Attacke auf die Redaktion von Charlie Hebdo zu beobachten war. Dennoch: Das Wissen um eine solche Taktik scheint dem LKA Berlin auch zwei Jahre nach dem islamistischen Anschlag in Frankreich nicht in den Sinn gekommen zu sein.

Die Fraktion der Grünen ist mit mehreren Aspekten der Tatortarbeit nicht einverstanden. Es fehlt ein Verzeichnis der Spuren, die am Fahrzeug gesichert worden sind. Eine »Lichtbildmappe«, die als eine Art Abschlussbericht der Tatortermittlungen vorliegt, ist wenig aussagekräftig. Die enthaltenen Bilder sind weder chronologisch nachvollziehbar, noch lassen sich anhand von Metadaten ermitteln, ob Bilder am Breitscheidplatz oder in der Wärmehalle in der Kaserne aufgenommen wurden. Und nicht nur die gesicherten Spuren müssen aufgearbeitet werden. Es fehlen auch wissenschaftliche Erklärungen, warum eigentlich erwartbare Spuren nicht in der Fahrerkabine gefunden wurden. »Meine CDs sind definitiv zum Staatsschutz gegangen«, erläutert Bordasch auf Nachfragen von Irene Mihalic. Doch statt eines konsistenten Abschlussberichtes der Tatortermittlungen zu erhalten, sollen die Parlamentarier, die bereits mit hunderten Terabyte an Video- und Aktenmaterial eingedeckt wurden, sich nun auch noch durch tausende Fotos der Tatortermittler arbeiten.

Widersprüchliche Uhrzeiten

Kurz vor Ende der Vernehmung hinterfragt die Fraktion der Grünen dann noch eine letzte Auffälligkeit. Es liegen Erkenntnisse vor, dass in der Nacht des Anschlags um 0 Uhr 55 eine Telefonkonferenz stattgefunden hat. Staatsschutz, Kriminalpolizei und Christian Steiof, dem Leiter des LKA Berlin waren daran beteiligt. Steiof sprach nach den Darstellungen der Grünen davon, man habe den Fahrer des Lastwagens mit einem Kopfschuss in der Fahrerkabine gefunden. Es gäbe ein mit der Kopfwunde korrespondierendes Einschussloch ein einer Scheibe der Fahrerkabine. Für Tatortermittler Bordasch ist das eine neue Erkenntnis. Über Videobildschirme im Saal wird ein Blick in die Fahrerkabine ermöglicht. Es gibt eine 360-Grad-Aufnahme, die neben dem Chaos in der Kabine auch die Scheiben zeigt. Die völlig zerstörte Frontscheibe kann nicht gemeint gewesen sein. Auch die Seitenscheiben sind intakt. Nicht nur das wird Steiof erklären müssen. Bordasch hat in Protokollen festgehalten, dass der Leichnam des polnischen Fahrers Lukasz U. erst gegen 01:45 Uhr untersucht worden ist. Fast eine Stunde nach den Einlassungen von Steiof.

Glanzstunden des LKA Berlin

Drei weitere Zeugen aus der Islamismusabteilung gaben zu Beginn des Sitzungstages ihre Aussagen ab. Sie sind durch ein eher zufällig gefundenes Überwachungsvideo auf die Zeugenliste geraten. Eine Kamera, die durch das LKA auf die Fussilet-Moschee in der Perleberger Straße gerichtet war, hat mehrere Überwachungsaktionen eingefangen, die in der Anschlagsnacht durch die eilig einberufenen Streifen durchgeführt wurden. Von der Kamera, die von der eigenen Abteilung schon Monate zuvor aufgestellt worden war, wussten die Islamismus-Experten angeblich nichts:
»Man nimmt ja eigentlich an, in der eigenen Abteilung redet man miteinander«, kritisiert Martina Renner, »Wir bleiben dabei: Vieles im LKA Berlin wirkt unabgestimmt und fachlich nicht kompetent.« Sie kritisiert, dass Zeugen sehr oft nicht auf einem Wissensstand seien, den man im Phänomenbereich Islamismus mittlerweile als bekannt voraussetzen müsse.

v.l.n.r. Polizeiobermeister Y.K., Polizeiobermeister T.A., Polizeioberkommissar R.D.

Zwei der drei Zeugen, die auf dem Video erscheinen, sind stark maskiert und anonymisiert, als sie zunächst aussagen, sich auf den Videos nicht zu erkennen, sich nicht ganz sicher sein wollen , und sich letztlich vielleicht doch erkennen.? Ihr wohl unmaskiert auftretender Kollege soll erklären, was er vor der Moschee rund eine halbe Stunde mit Rostam A. besprochen hat. Nichts Wesentliches sei zu Protokoll zu nehmen gewesen, meint Zeuge R.D., der es eher mit einem jammernden Rostam A. zu tun gehabt haben will, der schon damals pornosüchtig gewesen und heute psychisch krank sei. Die Linke-Politikerin Martina Renner konfrontiert R.D. damit, dass der harmlos wirkende Rostam A. in der Fussilet-Moschee eine durchaus gehobene Rolle übernommen hatte. Mitunter habe er den Imam vertreten und in dessen Abwesenheit den Zugang zur Moschee geregelt. Zeuge R.D. wirkt verdutzt bis arglos.

Ein »M300-Szenario« war ausgerufen worden. Polizeikräfte sollten jeden erkannten islamistischen Gefährder überprüfen. Eine offene und sichtbare Postierung vor den Berliner Moscheen wurde gewählt, während ein bewaffneter Täter auf der Flucht durch Berlin war. In den Einsatzprotokollen ist jedoch nichts über die Besuche an der Fussilet-Moschee zu finden, die wenige Stunden danach dann durch ein Sondereinsatzkommando gestürmt wurde. Alle drei Zeugen können weder erklären, was mit den Maßnahmen in der Anschlagsnacht erreicht werden sollte, noch, warum diese nicht dokumentiert sind.

36. Sitzung am 13.02.2020 – Leidiges Versteckspiel

Ein leitender BND-Beamter drückt sich im Amri-Untersuchungsausschuss wortreich um konkrete Auskünfte

Es ist 17.50 Uhr, als der letzte Zeuge im Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Breitscheidplatz-Attentat im Europasaal Platz nimmt. Ein Bundespolizist und ein Beamter der Ausländerbehörde Kleve hatten zuvor öffentlich ausgesagt und wenig Erkenntnisse geliefert. Zeugen, deren Aussagen weder Überraschendes noch Substanzielles lieferten. Die Obfrau der Linken, Martina Renner, hatte gänzlich auf Fragen an die Zeugen verzichtet, deren Aussagen frühere vor den Landesausschüssen keine neuen Erkenntnisse für den Bundestag versprachen. In geheimer Sitzung war am Vormittag bereits ein BND-Kollege gehört worden. Jetzt aber geht es für den Leitenden Direktor beim BND, Herrn C.H., in die Öffentlichkeit.

Sprachakrobatik

Welchen Beruf er denn erlernt habe, will ein Obmann vom BND-Zeugen C.H. wissen. »Das tut nichts zur Sache«, meint Zeuge C.H., der seit 30 Jahren beim BND ist. Der Ausschussvorsitzende Klaus-Dieter Gröhler interessiert sich nun auch und drängt auf eine Antwort. »Ich habe einen Universitätsabschluss«, entgegnet Zeuge C.H. wortkarg und zur Belustigung der Zuschauer auf der Tribüne im Europasaal. Nach einer Beratung mit Rechtsanwalt Johnny Eisenberg lüftet Zeuge C.H. das vermeintliche Geheimnis und gesteht, er habe Geschichte studiert und sei Historiker.

C.H., Leitender Regierungsdirektor beim BND

Seine Aufgabe beim BND: Er war seit April 2016 mit einem Arbeitsbereich befasst, der mit einer niedrigen dreistelligen Anzahl an ausländischen Gefährdern zu tun hatte. Amri sei untypisch gewesen, weil es keine Hinweise aus dem Ausland gewesen seien, sondern inländische, z.B. aus dem gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ, die Amri zum Arbeitsthema machten.

Ein reiner Polizeifall, nein, das sei Amri nicht gewesen, aber doch recht weit in der Skala eines Polizeifalls. Was auch immer das heißen mag in einem System, bei dem Polizei und Geheimheimdienste eigentlich aus historischen Gründen getrennt voneinander agieren sollen.

Es bleibt nicht die einzige Seltsamkeit in den wortreichen Aussagen des BND-Zeugen. Technische Ortungen, die der BND vornehme, seien gar nicht so genau. Den Daten dürfe man nicht trauen, meint C.H. Weder zeitlich noch örtlich seien diese Daten immer eindeutig. Woher er das wisse, kann 56-jährige C.H. nicht genau sagen und gibt an, es sei eine Information von »Kollegen, die sich besser mit Technik auskennen« würden als er selbst.

Als C.H. gebeten wird, die Erkenntnisse zu schildern, die der BND über die Flucht von Anis Amri nach dem Terroranschlag gewonnen hatte, gerät er ebenso in schwammig-stockende Erklärungsnöte. Über Emmerich, Frankreich und Italien sei die Flucht gegangen, aber er sei in einer Zwickmühle, denn er könne nicht so recht differenzieren, welche Informationen er aus dem BND-Bestand erinnere und welche möglicherweise durch einen ausländischen Nachrichtendienst zugeliefert wurden. Diese Informationen wären sogleich tabu, denn davon darf die Öffentlichkeit nichts erfahren. Geheimdienste bleiben unter sich.

Unwillen oder Unfähigkeit

Es ist nicht aufzulösen, ob der Zeuge nicht will oder nicht kann, aber er gibt gegenüber den Obleuten zunächst nichts preis. Eine Ortung von Anis Amri wenige Wochen vor dem Attentat habe keine weiteren Erkenntnisse ergeben als die zwei libysche Telefonnummern. Letztlich aber sei aus diesen auch nichts an zusätzlichen Erkenntnissen zu gewinnen gewesen und einen Zusammenhang zu US-Luftschlägen im Januar 2017 in Libyen gebe es da auch nicht.

In diesem Stil setzt Zeuge C.H. höflich, aber wenig konstruktiv die Aussage fort. Er kann nicht erklären, warum der BND ein Video, das vorab am Breitscheidplatz entstanden ist und den Fahrweg des LKW zeigt, als nicht relevant eingestuft hat. Ein Video, das Anlass für die Suche nach einem möglichen Mittäter sein kann, wie es die Obleute vermuten. Auch ein Video, in dem die Tatwaffe zu sehen ist. Die technischen Details eines der Videos, das sowohl dem BKA als auch dem BND vorliegt, aber unterschiedliche Erstelldaten aufweist, kann Zeuge C.H. nicht erhellen.

35. Sitzung am 30.01.2020 – Alles, nur kein Polizeifall

In der Sitzung des Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss berichten zwei Zeuginnen von den Ausreiseversuchen des späteren Attentäters

Die Zeugen von der Polizei – der Raum gefüllt mit BND-Personal. Deutlicher kann man nicht zum Ausdruck bringen, dass der Eindruck eines reinen Polizeifalles, den der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen propagierte, eine Farce war.

In der Sitzung des Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss im Bundestag verhieß die Tagesordnung für die öffentliche Sitzung am 30. Januar drei Zeuginnen der Polizei.

Desolates LKA Berlin

Mit den Widersprüchen zu den Aussagen ihrer Kollegen, aber auch ihrer eigenen Passivität, bestätigt die Zeugin Jutta Porzucek, Direktorin beim Polizeipräsidenten Berlin, das schlechte Bild, das über die Abteilung Staatsschutz im Landeskriminalamt Berlin in den bisherigen Sitzungen entstand. Porzucek stellte sich als Managerin dar. Ihr sei zugetragen worden, ihre Mitarbeiter*innen seien vertrauenswürdig gewesen und hätten gute Arbeit geleistet.

Porzucek wirkte geradezu distanziert von jedweden konkreten Inhalten, mit denen sich der Staatsschutz unter ihrer Leitung befasst hatte. Sie erinnerte aus keinem der drei Phänomenbereiche Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus konkrete Fälle oder Namen. Zu den Vorwürfen, genehmigte Überwachungsanordnungen seien im Fall Anis Amri nur unzureichend genutzt worden, wirkte Porzucek ratlos. Nein, es habe damals kein Personalproblem bei den Observierungsteams gegeben. Protokolle aus den Sitzungen des gemeinsamen Terrorabwehrzentrums GTAZ widersprechen dieser Darstellung.

Warum Observationen zwischen April 2016 und Oktober 2016 an nur 23 Tagen und jeweils nur bis 23 Uhr stattgefunden haben, konnte Porzucek nicht schlüssig erklären. Sie sei in diesem Zeitraum mit Leitungsaufgaben befasst gewesen, über die sie aber nicht reden möchte, weil es ihre Arbeitsweise offenlegen würde. Die von anderen Zeugen geschilderte Überlastung des Personals, schien ihr ebenfalls nicht bewusst.

Fritz Felgentreu (SPD) konfrontierte sie mit Nebentätigkeiten, die einem ihrer Referatsleiter in dieser Phase erlaubt worden waren. Porzucek meinte, sie interessiere sich nicht dafür, was die ihr unterstellten Mitarbeiter*innen im Urlaub täten. Fritz Felgentreu wünschte sich überlastete Mitarbeiter*innen lieber im Urlaub erholen, statt in einer Nebentätigkeit. Wie auch ihre LKA-Kolleg*innen, erschien Porzucek ohne Unterlagen und Notizen vor dem Untersuchungsausschuss, die erkennen lassen würden, dass eine rechtssichere Dokumentation von Arbeitsvorgängen stattgefunden hat.

»Es ging nicht um irgendeine Panne, sondern das waren folgenschwere Fehlentscheidungen, die dort getroffen wurden. Aufzuklären, wer im LKA Berlin dafür Verantwortung ist ein zentraler Punkt für diesen Untersuchungsausschuss, aber sicher auch im AGH«, fasste Martina Renner (LINKE) die Aussage von Porzucek zusammen.

»Da wussten Sie mehr, als manch andere Behörde!«

Für eine kleine Überraschung sorgte Julia Buchen von der Polizeidirektion in Stuttgart. Sie hatte Bereitschaftsdienst, als Anis Amri am 30. Juli 2016 mit gefälschten Papieren am Busbahnhof Friedrichshafen bei einem Ausreiseversuch aufgegriffen wurde. Mit Informationen des Bundespolizei Potsdam, aber auch der Polizeien aus Berlin und NRW, musste sie entscheiden, ob Anis Amri ausreisen durfte. In der Aussage schildert Buchen, was ihr vorgetragen wurde und belegt, was im Juli 2016 über Anis Amri bekannt gewesen ist: Die große Zahl an Alias-Identitäten, Straftaten, Drogenhandel, Kontakte zum Islamischen Staat. »Da wussten Sie mehr, als manch andere Behörde zu diesem Zeitpunkt gewusst haben will«, äußerte sich Volker Ullrich (CDU) verwundert.

Buchen folgerte damals, dass eine Ausreise nicht stattfinden dürfe. Weder in die Schweiz, noch in andere Länder des Schengenraumes oder gar als Foreign Fighter nach Syrien. Über eine damals bereits geplante Abschiebung war Buchen nichts bekannt. Eine Erklärung, warum es ein Telefonat zwischen der Polizeidirektion Konstanz, in deren Verantwortungsbereich der Ausreiseversuch stattfand und der Bundespolizei Potsdam gab, hatte Buchen nicht.

BND, BfV und BMI

Die Fachaufsicht der Bundespolizei hatte auf der Regierungsbank Platz genommen, deren gewöhnliche Besetzung schon vor einigen Wochen Zuwachs erhalten hatte. Die Abteilung 7 des Kanzlerinnenamtes, die für die Geheimdienstkontrolle zuständig ist, wurde an diesem Tag von zwei Vertretern des Bundesnachrichtendienstes begleitet, die den Aussagen der Polizistinnen lauschten.

Erst gegen 20 Uhr sollte der nichtöffentliche BND-Zeuge des Tages – ein Regierungsdirektor M.S. – aussagen. Sitzfleisch war gefragt für die Geheimdienstler, die sich sichtlich freuten, als ein Trupp von vier Behördengästen auf der Besuchertribüne direkt im Rücken der Presse Platz nahm. Freundliche Blicke und ein Lächeln wurden ausgetauscht – man kennt sich.

So freundlich die Blicke in Richtung der namenlosen BND‘lerin auch waren, so zackig und rüde fiel die Antwort auf die Nachfrage aus, von welcher Behörde die Besucher denn seien: »Wir wollen uns das hier nur anschauen!« Der Besuch war nur von kurzer Dauer – die Aussage der dritten Zeugin Jana Seeber verfolgte der Trupp dann doch nicht und verschwand nach wenigen Minuten wieder von der Besuchertribüne.

Polizeihauptkommissarin Jana Seeber wurde ebenfalls zur Nacht des Ausreiseversuches in Friedrichshafen befragt, steuerte aber nur wenig neue Informationen bei.

In geheimer Sitzung

Unter Ausschluss der Öffentlichkeit ging es dann um die mittlerweile seit Monaten diskutierten Videos, die dem Bundeskriminalamt BKA und dem Bundesnachrichtendienst BND von einem ausländischen Nachrichtendienst nach dem Anschlag zugegangen waren. Während das Erstellungsdatum des Drohvideos auf den November 2016 – also mehrere Wochen vor dem Attentat – verortet werden kann, ist aktuell unklar, wann und wie der nicht näher benannte ausländische Nachrichtendienst in Besitz des Videos gelangte.

Beim Blick auf die Behörden, die aktuell die Aufarbeitung im Bundestag verfolgen, fallen auch Experten, wie Michael Vogel auf, der für das Bundesministerium des Innern den Breitscheidplatzausschuss verfolgt. Vogel war am Ausbau der Internetüberwachung beteiligt, als es um die engere Vernetzung der Verfassungsschutzämter mit US-Behörden, wie der National Security Agency NSA, ging. Gemeinsam mit Hans-Georg Maaßen nahm Vogel auch an einem Treffen mit einer US-Delegation teil. Vogel hatte auch für die ehemalige Verfassungsschützerin Eva Maria H. den Sitz des Innenministeriums im Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss übernommen, die als mögliche Zeugin dort nicht hätte sitzen dürfen. Deutlich zu viele Verfassungsschutzbezüge, für den angeblichen Polizeifall.

34. Sitzung am 16.01.2020 – Erklärungsnöte

Ein Vieraugengespräch, an das sich immer mehr Menschen erinnern, wird glaubwürdiger, als das Bundeskriminalamt, das nicht tätig werden wollte, wo es angebracht war.

Gegen 21 Uhr 30 beginnt der Untersuchungsausschuss mit dem dritten Zeugen des Tages. Jan Rehkopf, 44 Jahre alt, Erster Kriminalhauptkommissar beim Bundeskriminalamt, war im Februar 2016 gemeinsam mit dem Kollegen Philipp Klein Teilnehmer in einer Sitzung bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe.

Das Thema der Sitzung klingt, wie ein Philosophiekurs an der Universität über Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit. Diskutiert wurde die Glaubwürdigkeit der Vertrauensperson 01 und die Glaubhaftigkeit der Informationen, die geliefert worden sind. Der Disput: Längst war die VP01 ein wichtiger Belastungszeuge in Verfahren der Generalbundesanwaltschaft. Nun soll eine schriftliche Einschätzung niedergelegt werden, weil das Bundeskriminalamt Zweifel an einzelnen Angaben hat, die die VP01 lieferte.

Jan Rehkopf, Erster Kriminlhauptkommissar, BKA

Das Landeskriminalamt sitzt nicht nur mit KHK M., der zu diesem Zeitpunkt die EK Ventum leitet und gegen den Statthalter des IS in Deutschland Abu Walaa ermittelt in der Sitzung, sondern auch mit den Vertrauenspersonenführern. Nach langjähriger Kooperation mit der VP01 ist im LKA NRW die Zuverlässigkeit der Quelle und die Güte der gelieferten Informationen wohl zu einer festen Größe geworden. Man steht hinter der VP01.

Gegen die VP01 sprechen KHK Klein und KHK Rehkopf vom Bundeskriminalamt. Sie können sich nicht erklären, wie trotz Sprachproblemen und verhältnismäßig kurzer Aktivität in der Szene Informationen solch einer Güte geliefert werden können.

Rehkopf, der als ruhig und ausgleichend beschrieben worden ist, vermeidet in seiner Aussage, Position zu beziehen, wird als vermittelnd beschrieben. So gibt er sich auch vor dem Untersuchungsausschuss. Sowohl seinen Kollegen Klein, als auch den KHK M. würde er sehr schätzen. Er kann sich nicht erklären, wie es nun ausgerechnet zwischen diesen beiden Beamten zu einer Art „Blame-Game“ kommen konnte. Vom Vieraugengespräch zwischen Klein und KHK M. , das an diesem Tag bereits von einer weiteren Zeugin der Generalbundesanwaltschaft thematisiert und inhaltlich bestätigt wurde, will Rehkopf nichts mitbekommen haben. Auch nicht von Druck durch Kollegen und Vorgesetzte, die Gefährdungseinschätzung in eine Richtung zu überarbeiten.

Inkonsistenzen

So schwungvoll das Eingangsstatement von Jan Rehkopf noch war, so sehr gerät er unter den Fragen von FDP, Linken und Grünen in die Defensive. Sein kritischer Seitenhieb auf den Föderalismus, der Länderpolizeien vorsieht, passt nicht damit zusammen, dass er gleichzeitig die Bearbeitung des Falles bei den Länderpolizeien belassen wollte. Ein Gefährder, der sich durch drei Bundesländer bewegt und an den dortigen Islamisten-Hotspots auftaucht, war nach Ansicht der Obleute Grund genug, damit sich das Bundeskriminalamt nach §4a BKA-Gesetz hätte einschalten müssen.

Inkonsistent ist auch, warum die gleichen Beamten, die den Fall eigentlich in den Händen der Landespolizeibehörden belassen wollen, so leidenschaftlich dafür gekämpft haben, dass die die Ergebnisse der Quelle VP01 umgedeutet werden und in Kauf nahmen, die Quelle so zu diskreditieren, dass laufende Verfahren darunter zusammenbrechen könnten.

Auch Frage nach der grundlegenden Kompetenz im Umgang mit islamistischen Gefährdern wird gestellt. „Kennen Sie das IS-Handbuch „How to survive in the west.“, will Benjamin Strasser (FDP) wissen. „Sehen Sie es mir nach, da habe ich meine Belletristik vernachlässigt“, antwortet Jan Rehkopf keck.

Lehrbuchreif

Kriminaldirektor W. vom Landeskriminalamt Nordrheinwestfalen ist über solches Grundlagenmaterial im Bilde. In seiner Zeit beim LKA 21 in NRW strebte er vor allem an, den roten Faden nicht zu verlieren, den es für die Beurteilung eines Gefährders brauche. „Das ist im Prinzip wie bei einem Film“, beschreibt KD W. die Arbeitsweise und dass er den späteren Attentäter von November 2015 bis zu dessen Tod im Dezember 2016 verfolgt und als gefährlich eingeschätzt habe.

KD W. kann sich nicht erklären, wie es zu dem durch das LKA Berlin offenkundig verbockten Zugriff am Zentralen Omnibusbahnhof am 18. Februar 2016 kommen konnte. Der Polizeibefehl zum vorgehen, der als Resultat der Sitzung des gemeinsamen Terrorabwehrzentrums GTAZ am Vortag entstanden ist, besagte klar: „Tarnung vor Wirkung“.

Dezernent W., Innenministerium NRW / Polizeiabteilung

Aus anderen Aussagen ist bekannt, dass Ermittler des LKA Berlin zwei Tage nach der befehlswidrigen Aktion, Bilder des späteren Attentäters in Geflüchtetenunterkünften in Berlin herum zeigten. „Da muss man ja – böse gesagt – sich fragen: Hatten die da alle Latten am Zaun.“ hakt Benjamin Strasser nach. KD W. antwortet diplomatisch-kollegial und ohne die nahegelegte Polemik: „Wir arbeiten verdeckt im Terrorismusbereich. Eigentlich.“

Für KD W. gab es keine Zweifel, wie gefährlich der spätere Attentäter war. „Wir hatten eine Telefonüberwachung wo im Hintergrund geballert wurde – das fand ich schon äußerst plastisch.“ gibt er zu einem abgehörten Telefonat nach Libyen zu Protokoll. Als im September und Oktober 2016 dann Geheimdiensthinweise auf den späteren Attentäter durch den marokkanischen Geheimdienst übermittelt wurden, stieg für KD W. die Gefährlichkeit noch einmal an: „Wer die Entwicklung des späteren Attentäters verfolgte, MUSSTE nach meiner Ansicht hochsensibel auf diese Informationen reagieren.“
Dafür, dass die Information erst Wochen nach Erhalt in der Sitzung vom 2. November 2016 im GTAZ behandelt wird, gibt es bisher keine Erklärung. Damals übernahm dann das Bundesamt für Verfassungsschutz die weitere Bearbeitung.

Zum Vieraugengespräch bestätigt auch KD W., dass sein Kollege KHK M. ihm davon zeitnah mit den Worten „kaputtschreiben“ berichtet hat, er aber Details nicht mehr erinnern kann. „Für seine Verhältnisse war KHK M. emotional und aufgebracht“, blieb KD W. im Gedächtnis.

Gewissenskonflikt

Staatsanwältin Claudia Gorf, die als erste Zeugin an diesem Tag aussagte, erinnerte den emotionalen und für KHK M. eher untypischen Zustand ebenso. Gorf beschreibt, dass sie mit KHK. M. zuletzt im November 2019 in einer anderen Sache telefonierte und dieser sich zunächst nicht daran erinnern konnte, mit ihr am 23. Februar 2016 über das Vieraugengespräch geredet zu haben.

Er habe sich das Gehirn zermatert, wem er am Abend nach dem Gespräch in Karlsruhe noch davon berichtet habe, sei aber nicht auf Gorf gekommen. Für Gorf ein deutliches Anzeichen dafür, dass KHK M. glaubwürdige Angaben macht. Bisher gibt es keine Erklärung, warum KHK M. derartig vielen Personen von einem Vieraugengespräch hätte berichten sollen, das sich erst nach dem Anschlag und Jahre später vor einem Untersuchungsausschuss als relevant erweist.

Oberstaatsanwältin Claudia Gorf, Bundesgerichtshof / GBA

„Ich kenne Herrn M seit dem Jahr 2015. Er ist ein äußert gewissenhafter und professioneller Beamter mit einem Weitblick in diesem Bereich, einem kriminalistischen Spürsinn.“ stärkt auch Zeugin Gorf die Position des KHK M. und beschreibt dessen Gewissenskonflikt nach dem Vieraugengespräch. Sie habe KHK M. dann abverlangt, die Angelegenheit an ihren Vorgesetzen Horst Salzmann heran zu tragen, um das weitere Vorgehen abzustimmen.

Gorf erinnert auch die Sitzung vom 23. Februar 2016, differenziert klar, was eigene Erinnerung ist und macht Abstriche dort, wo sie nicht ausschließen kann, dass sich eine Erinnerung erst in den letzten Wochen aufgefrischt hat. Ob sich der BKA-Zeuge Philipp Klein in dieser Sitzung in eine Sackgasse herein manövriert habe, weiß Gorf nicht: „Es war eher eine Situation: Ziemlich viele gegen einen.“

33. Sitzung am 19.12.2019 – Unangenehm

Behördenversagen trifft auf den Wunsch nach Beschaulichkeit. Während die Opposition kritisch Bilanz zieht, vermeiden die Regierungsparteien Kritik

Zur Halbzeit der Legislaturperiode zog die Bundesregierung im November 2019 mit großem Bahnhof eine Zwischenbilianz des Regierungshandelns. Um den Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz-Attentat indes, blieb es still. Die Oppositionsparteien FDP, Bündnis90/Die Grünen und die Linke durchbrachen diese Stille und setzten rechtzeitig vor dem Jahrestag am Mittwoch eine einstündige Zwischenbilanz an, an der sich die Parteien der großen Koalition jedoch nicht beteiligten.

Der Ausschussvorsitzende Klaus-Dieter Gröhler (CDU) hält das für zu früh, wie er in einem Interview im ZDF Morgenmagazin vorab rechtfertigt. Man sei mitten in der Arbeit. Ein Zwischenergebnis sei derzeit nicht angebracht, „weil man sich durch so ein Zwischenergebnis möglicherweise auch bestimmte Fragestellungen verschüttet.“

Eine Kritik, dass der Untersuchungsausschuss weiterhin auf Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz wartet, die längst vorliegen müssten, kommt Klaus-Dieter Gröhler nicht über die Lippen.

Timing

Pflichtschuldig meldet sich Fritz Felgentreu dann am Jahrestag des Attentats mit einer Pressemeldung zu Wort, als das Thema in den Redaktionen entweder schon produziert ist oder nur noch auf die aktuellen Bilder aus der Gedenkveranstaltung des Abends warten muss.

„Wir konnten entgegen früherer Verlautbarungen weitere Belege sammeln, dass Amri kein klassischer Einzeltäter und auch kein ‚reiner Polizeifall‘ war. Amri war in länderübergreifende islamistische Netzwerke eingebunden. Unsere Nachrichtendienste hatten Erkenntnisse über ihn“, formuliert Fritz Felgentreu, was in der Pressekonferenz von FDP, B90/Grüne und Linken deutlich als Versagen der Bundesbehörden dargestellt wurde.

Eine proaktive und zeitgerechte Pressearbeit – abseits von den obligatorischen Bekundungen von Anteilnahme zum Jahrestag – vermieden die Regierungspateien.

Versagen auf Bundesebene

Am Jahrestag des Anschlags ist es Polizeioberrat Youssef El-Saghir vom Landeskriminalamt Berlin, der zum Behördenversagen aussagen muss. Die Fragestellungen der Obleute kreisen vor allem um eine Personenenüberprüfung des späteren Attentäters am 18. Februar 2016. Zunächst rechtfertigt sich El-Saghir, das LKA Berlin habe zu spät davon erfahren, dass man den späteren Attentäter observieren, aber nicht direkt ansprechen solle. Eine explizite Order habe es erst knapp eine Stunde nach dem Zeitpunkt gegeben, als Berliner Polizeikräfte den späteren Attentäter am Zentralen Omnibusbahnhof ZOB bereits kontrolliert und sein Handy beschlagnahmt hatten.

Es ist das penibel geführte Einsatztagebuch des NRW-Beamten KHK M., aus dem die Obleute nun aber belegen konnten, dass die Information über die Gefährlichkeit des späteren Attentäters, sowie dessen Berlinpläne bereits am Vortag in der Sitzung des gemeinsamen Terrorabwehrzentrums GTAZ ein Thema waren. In einer Infoboard-Runde wurde darüber gesprochen, dass Observation, aber kein Zugriff erfolgen sollte.

El-Saghir entschuldigt den Zugriff nicht zuletzt auch damit, man habe nicht rechtzeitig Observationsteams bereitstellen können. Die mangelhafte und zu späte Weitergabe der Information durch den Beamten C. und den zuständigen Infoboard-Bearbeiter, kann er nicht erklären.

Klare Worte

„Der Tag am ZOB hat viel mehr Bedeutung bekommen, als der eigentlich verdient“, rechtfertigte El-Saghir noch zu einem frühen Zeitpunkt seiner Aussage. „Ich war durchgängig der Ansicht, dass der Willen einen Anschlag zu begehen keine Konstante darstellte“, erklärt er das abnehmende Interesse am späteren Attentäter im Laufe des Jahres 2016.

Im Mittlerweile dritten Untersuchungsausschuss fallen aber auch Worte, die immerhin nicht mehr zum Ziel haben, Fehler zu vertuschen: „Die Liste an Versäumnissen, wenn Sie die vorlesen würden, würde den heutigen Tag sprengen“, räumt El-Saghir schuldbewußt ein.

Trotzdem bleibt die Häufung von Fehleinschätzungen unerklärlich. Aus der Telefonüberwachung des späteren Attentäters geht hervor, dass sich dieser nach dem Zugriff am ZOB der polizeilichen Überwachung bewusst war. Als am 18. Februar 2016 das LKA NRW noch versuchte, genaueres zur Reiseroute des späteren Attentäters in Erfahrung zu bringen, musste die VP 01 ein Telefongespräch führen. Der wenig später erfolgende Polizeizugriff enttarnt die VP-01, die danach nicht mehr einsetzbar ist. „Das LKA hat auf mich gewartet in Berlin“, ist in den Protokollen der Telefonüberwachung zu finden. Der spätere Attentäter wechselte daraufhin seine Telefone und informiert seine Kontakte.

„Die Idee eine eigene VP ins Rennen zu bringen, die stand nicht zur Debatte, weil mehr als die VP-01 hätte niemand zu Tage bringen können“, gibt El-Saghir zu Protokoll. „Im Nachhinein betrachtet, wäre es eine sinnvolle Maßnahme gewesen.“

Youssef El-Saghir (Polizeioberrat | LKA Berlin)

Bundesverantwortung

So bereitwillig der Polizeioberrat El-Saghir die Versäumnisse einräumt, so deutlicher macht er, dass spätestens nach der Polizeiaktion vom 18. Feburar 2016 hätte klar sein müssen, dass der Fall späteren Attentäters zwischen den Länderpolizeien nicht effektiv gehandhabt werden kann. Die deutsche Quelle VP-01 war verbrannt. Der Nachrichtenmittler Anis Amri, der wohl am nächsten am IS-Statthalter Abu Walaa dran war, tauchte zumindest digital ab und änderte sein Verhalten, wie es das IS-Handbuch rät.

Verantwortung und AufklärungEl-Saghir bittet nach dem Ende der Sitzung eines der Opfer des Anschlags um Verzeihung. Auch der Behördenleiter zeigte sich vor dem Untersuchungsausschuss reumütig.
Zwei weitere Kollegen des LKA Berlin verweigern die Aussagen vor dem Untersuchungsauschuss, um sich nicht zu belasten. Sie fürchten die erneute Aufnahme von Ermittlungen wegen mutmaßlicher Aktenmanipulationen. Eine Woche zuvor sah mit dem Zeugen Philipp Klein ein Beamter des Bundeskriminalamtes keine Veranlassung für eine Ermittlungsgruppe auf Bundesebene. Die Bereitschaft sich zu einer Mitverantwortung zu bekennen variiert stark. Das fangen auch die Solidaritätsbekundungen aus Regierungsparteienkreisen anlässlich des dritten Jahrestages nicht auf.

32. Sitzung am 12.12.2019 – Aussage gegen Aussagen

Eiligst dementierte das Bundesinnenministerium die Aussage eines Landespolizisten. In der Gegenüberstellung litt jetzt die Glaubwürdigkeit des Bundeskriminalamtes.

„Bereits ein inhaltliches Vieraugengespräch hat es nicht gegeben.“ Die Worte von Ministeriumssprecher Steve Alter in der Regierungspressekonferenz vom 15.11.2019 wogen schwer. Nur wenige Stunden nach der Aussage von Kriminalhauptkommissar KHK M. vom Landeskriminalamt Nordrheinwestfalen dementierte das Bundesinnenministerium die Aussage des Polizisten. Stringent und überzeugend hatte er zu Protokoll gegeben, auf Geheiß „von ganz oben“ sei der Fall des späteren Attentäters nicht auf der Ebene der Bundesbehörden zu bearbeiten gewesen.

Vier Wochen später sitzt KHK M. erneut im Bundestag. Das es ein aufwühlendes Vieraugengespräch gegeben haben muss, bestätigt an diesem Tag Dieter Killmer von der Generalbundesanwaltschaft.

Herr M. (Kriminalhauptkommissar beim LKA NRW / Leiter der EK Ventum)

Am 23. Februar 2016 hatte KHK M. nicht nur mit Killmer über den Inhalt gesprochen. Auch Bundesanwältin Claudia Gorf wurde ins Vertrauen gezogen und riet KHK M sich auch an Bundesanwalt Horst Salzmann zu wenden, so heißt es. Die Aussagen von Killmer und KHK M. stehen im Widerspruch zur Regierungslinie. Doch welche Gründe sollten sie haben, sich selbst und weitere Kollegen unter Wahrheitspflicht so zu belasten?

Jungfrauen und Kinder

Im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ wird im Februar 2016 gestritten. Während das LKA NRW in mehreren Sitzungen das Bundeskriminalamt BKA ersucht hat, den Fall des späteren Attentäters zu übernehmen, mauert vor allem Philipp Klein von der Zentralstelle für Gefährdungsbewertung des BKA.

Klein wollte damals nicht glauben, dass eine Quelle des Landeskriminalamtes NRW – die VP-01 – mit den Anschlagswarnungen so richtig liegen könne. Niemals in der Geschichte der Bundesrepublik habe eine einzelne Quelle zu mehreren Anschlagsplanungen Informationen beschaffen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Quelle zwei Mal so dicht an Attentätern und deren Anschlagsplanungen dran sei, sei wie „zwei Sechser im Lotto in einer Woche“, gibt Klein mehrfach und wortreich zu Protokoll.

Ein rund anderhalbstündiges Eingangsstatement ist der Auftakt zu einer Zeugenaussage, die etwa sechs Stunden dauert. Sechs Stunden, in denen Philipp Klein semantische Pirouetten dreht und Wortklaubereien an den Tag legt. Man müsse deutlich zwischen der Glaubhaftigkeit von Informationen und der Glaubwürdigkeit einer Quelle unterscheiden, argumentiert Klein und ignoriert, dass eine Quelle, die keine glaubhaften Informationen liefert gemein hin auch nicht als glaubwürdig wahrgenommen wird. „Ich habe es vorhin schon gesagt, aber ich sage es gerne noch einmal“ wiederholt sich Klein schon im Eingangsstatement und auch später in der Aussage. Er strapaziert immer wieder mit ausweichenden Anworten die Geduld der Abgeordneten.

Philipp Klein (Erster Kriminalhauptkommissar beim BKA)

Opfer einer Intrige?

Der 39-jährige Klein schildert sein Dilemma. Die Behauptung es habe ein Vieraugengespräch gegeben, sowie die Inhalte daraus könne er schwerlich widerlegen. Klein nimmt damit indirekt vorweg dass er bereit ist, Aussage gegen Aussage stehen zu lassen. Doch schon als es um das Vieraugengespräch geht, muss er einschränken. Er kann nicht ausschließen, dass ein persönliches Gespräch zwischen KHK M. und ihm stattgefunden habe. Vielleicht auf dem Weg zur Toilette oder auf dem Weg die Treppe hinunter.

Definitiv aber könne er ausschließen, dass es um die Inhalte gegangen sei – eine Weisung von ganz oben – die KHK M. in seiner Aussage geschildert hat. In anderen Punkten seiner Aussage argumentiert sich Klein vordergründig unangreifbar und verstrickt sich später doch in Widersprüche und Seltsamkeiten. Klein beharrt darauf, dass es kein Übernahmeersuchen gegeben hat und muss im Laufe der Aussage wieder einschränken und präzisieren. Die Protokolle aus dem GTAZ belegen ein Übernahmeersuchen.

Ein solches Ersuchen ist für Klein erst dann relevant, wenn es schriftlich vorgebracht wird. Obfrau Irene Mihalic (B90/Grüne) lässt diese Ausrede nicht gelten. Mihalic macht klar, dass im Gesetz ein Übernahmeersuchen an das BKA an keine spezielle Form gebunden ist. Für Klein ist es das Signal nun deutlich zu machen, dass er ein Übernahmeersuchen nur dann akzeptiert, wenn es von der Behördenleitung vorgebracht wird und nicht von einem Sachbearbeiter im GTAZ.

Klein gleitet in seinen Rechtfertigung zusehends ab. Die Abgeordneten wollen wissen, warum sich die Bundesebene nicht eingeschaltet hat als ersichtlich wurde, dass der spätere Attentäter über die Grenzen von Bundesländern hinweg agierte. Klein meint, das LKA NRW sei kompetent genug gewesen, um den Fall in eigener Zuständigkeit zu bearbeiten.

„Mit ihrer Argumentation könnte man den Paragrafen 4a aus dem BKA-Gesetz streichen“, hält Irene Mihalic die Gesetzesgrundlage vor, die Klein hätte wählen müssen. Eine Zuständigkeit seiner Behörde will dieser jedoch nicht sehen. Er konstruiert, es müssten schon mehrere Bundesländer beteiligt sein damit das BKA überhaupt tätig werden könne.

Die Faktenlage spricht gegen Kleins Ansicht: Bis zum Februar 2016 waren es bereits drei Bundesländer, in denen sich der spätere Attentäter bewegt hatte: Nordrheinwestfalen, Berlin und Niedersachen .

Sachkundige Ausschusskreise wundern sich zudem über die steile Karriere des BKA-Mannes Klein, der seit Einstellung in den gehobenen Polizeidienst im Jahr 2001 nach jedem Beurteilungstermin befördert wurde. Eine solche Karriere sei „mindestens ungewöhnlich“ und sorgt für Verwunderung angesichts der von Klein getätigten Aussagen.

Gegenüberstellung

Es ist ein neues Format, das gegen 21 Uhr 30 im Saal 4.900 des Bundestags zur Anwendung kommt. Der Ausschuss entscheidet sich für eine Gegenüberstellung der drei Zeugen dieses Tages. Ein Vorteil: Widersprüche können zeitnah diskutiert werden.

Philipp Klein passt seine Sprache an. Neben den klaren und strukturiert gewählten Worten von KHK M und dem ebenso sachlich agierenden Killmer, ist kein Platz mehr für Ausschweifungen und Wiederholungen. Wohl aber für eine gespielt wirkende Empörung, mit der Klein auf die Ausführungen von KHK M. reagiert, der nun direkt neben ihm sitzt.

KHK M. trägt sachlich und selbstkritisch vor. Bundesanwalt Killmer räumt ein sich nicht mehr an die Inhalte, wohl aber an einen sehr emotionalen und aufgewühlten KHK M. erinnern zu können, der ihm von einem äußerst problematischen Vieraugengespräch berichtet hat. Klein gerät zusehends unter Druck.

Kurz vor der Sitzung hatte das Rechercheteam des WDR aus E-Mails zitiert, die Klein nun belasten. Mit seinen Vorgesetzten Sven Kurenbach und Martin Kurzhals hatte Philipp Klein hochgradig emotional diskutiert. Von einem „Schlupfloch“ das geschaffen werden müsse war die Rede. Die VP-01 konnte man offenbar nicht gänzlich unglaubwürdig schreiben. Klein ließ sich jedoch weiter ein und bezichtigte im gleichen Mailaustausch das LKA NRW der „Lüge“, warf „hochgradig unprofessionelles“ Verhalten vor und schrieb von „Trostlosigkeit“ der Fakten des LKA NRW.

Klein argumentiert seine seltsam verzweifelt wirkende Wortwahl in den Bereich eines Jargons, den Kollegen untereinander pflegen würden und der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sei. Auf Benjamin Strasser (FDP) wirkt das dokumentierte Verhalten Kleins im GTAZ und in den E-Mails geradezu bockig. Es könne schlicht nicht sein, dass eine Quelle zu zwei Anschlagssachverhalten zuverlässig Informationen liefere, war damals Kleins Linie.

„Das ist auszuschließen, sagt die Jungfrau bevor sie schwanger ist! Einmal ist immer das erste Mal!“, sei die Reaktion von Bundesanwalt Horst Salzmann darauf gewesen, beschreibt KHK M.

Wem glauben?

„Wenn ich das hier vergleiche mit dem was uns schriftlich vorliegt, ergibt sich aus den Schilderungen von Herrn M. ein in sich ein geschlosses Bild, ein Bild, das man nachvollziehen kann. Warum sollte Herr M. gelogen haben?“ eröffnet Fritz Felgentreu (SPD) dem Zeugen Klein eine Möglichkeit, seine unter Wahrheitspflicht getroffenen Aussagen zu revidieren. Klein nimmt diese nicht an und belässt es beim Stand Aussage gegen Aussage.

Die Selbstverständlichkeit mit der die Bundesregierung auch nach dieser Sitzung hinter den Aussagen von Philipp Klein steht, gibt Rätsel auf. Aus ihrer Sicht hat die Sitzung keinen Grund geliefert, um von der getroffenen Einschätzung abzuweichen.

Gegenüberstellung: Herr M. (Kriminalhauptkommissar beim LKA NRW / Leiter der EK Ventum), Philipp Klein (Erster Kriminalhautkommissar beim BKA) und Dieter Killmer (Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof)

31. Sitzung am 14.11.2019 – Kaputtmachen

„Zu viel Arbeit“ machte eine Quelle, die im November 2015 auf den späteren Attentäter hinwies. Die Anweisung aus dem Bundesinnenministerium: „Kaputtmachen“.

Es ist ein Moment, den auch erfahrene Mitarbeiter in Bundestagsausschüssen nur selten erleben. Eine angestrengte Stille und Fassungslosigkeit machen sich schlagartig breit, als Kriminalhauptkommissar KHK M. um kurz nach 17 Uhr bereits 40 Minuten referiert. Er ist Polizeibeamter und sagt unter Wahrheitspflicht aus.

Es ist das Recht der Zeugen ein Eingangsstatement abzugeben und „im Zusammenhang“ vorzutragen, bevor die Vernehmung durch die Parlamentarier beginnt. Die Qualität der Eingangsstatements schwankt stark, gleicht mitunter einem Filibuster, einer Rede, die nur Zeit kosten soll. Doch KHK M. hat eine andere Absicht. Die ersten 40 Minuten seines Eingangsstatements sind die chronologische Hinarbeit auf einen Tag und der Beleg seiner Arbeitsweise.

Seit November 2015 hatte das LKA NRW glaubwürdige Hinweise der VertrauenspersonVP-01, die die Gefährlichkeit des späteren Attentäters belegten. Zeuge KHK M. führt 6 Vertrauenspersonenführer an, die aus der langjährigen Zusammenarbeit heraus für die Glaubwürdigkeit bürgen. Dazu eine große Anzahl von Polizisten, die in ein Ermittlungsgruppen mit den Ergebnissen der VP-01 arbeiteten.

Streit in großer Runde

Es ist eine Sitzung des gemeinsamen Terrorabwehr-Zentrums GTAZ, die den Ausschuss noch lange beschäftigen wird. Die Protokolle dazu sind an der Grenze zur Belanglosigkeit, doch es ging hoch her. Die Ermittler des LKA NRW hatten bereits versucht den Fall des hochmobilen späteren Attentäters auf Bundesebene an das BKA abzugeben. Die Gefahr war korrekt erkannt, doch das Bundeskriminalamt wiegelt ab. Man glaubt den Informationen der VP-01 nicht. Zu gut. Zu zuverlässig. Wie könne es sein, dass zu zwei Sachverhalten so präzise und zutreffende Angaben kommen?

Für das LKA NRW verteidigt KHK M. als Leiter der EK Ventum die Einschätzug. Ventum ermittelte gegen den IS-Vertreter in Deutschland Abu Walaa und nutzte den späteren Attentäter bereits als „Nachrichtenmittler“. Doch kein Sachargument half. Die Sitzung endet.

Es ist ein Herr Klein vom Bundeskriminalamt, der nach der Sitzung mit KHK M. unter vier Augen spricht. Es gäbe „Anweisung von ganz oben“, dass die Quelle VP-01 „kaputt zu machen“ sei. Und das LKA NRW gleich mit, weil es immer wieder so unliebsame Informationen lieferte. KHK M. fertigt eine Gesprächsnotiz an, notiert, die Anweisung sei vom Bundesinnenministerium gekommen. Präzise schildert der 59-jährige KHK M. , dass er „de Maiziére“ notiert hat. Aus der Erinnerung vermag er aber nicht mehr zu sagen, ob das für die Ministeriumsspitze oder die Person des damaligen Innenministers steht. Handschriftlich, zeitnah dokumentiert in einem Notizbuch.

Die kommenden Monate dürfte der Ausschuss nun damit verbringen, die Zeugenliste abzuarbeiten, die KHK M. zu Protokoll gab. M. suchte bereits kurz nach dem Gespräch den Generalbundesanwalt auf und setzte diesen über den unglaublichen Sachverhalt in Kenntnis, der im Vieraugengespräch durch Herrn Klein geäußert wurde. Es sind nur wenige Dienstwege, die auf dieser Ebene noch gangbar sind. Sie führen an die Türen der Spitzen des Bundesinnenministeriums, Bundeskriminalamtes und der Generalbundesanwaltschaft.

Über die Klinge springen
Die Quelle VP-01 hat zu dem Zeitpunkt beinahe den Status eines verdeckten Ermittlers. Verdeckte Ermittler leisten als Beamte das, was die VP-01 quasi auf Honorarbasis freiberuflich tat. Über fünfzehn Jahre hinweg wurde die VP-01 überwiegend im Bereich Organisierte Kriminalität eingesetzt und lieferte stets zuverlässige Informationen.

Informationen, die das Bundeskriminalamt nicht glauben will. Herr Rehkopf erteilt KHK M. Anfang Februar 2016 den Auftrag, die scheinbar unglaublichen Hinweise der VP-01 zu verifizieren. Dazu solle die VP-01 mit einem Mikrofon verkabelt und erneut in das Gespräch mit den radikalen Islamisten geschickt werden. KHK M. erkennt das Todesurteil, das damit ausgesprochen wird und unterbindet es. Zu diesem Zeitpunk ist bekannt, das radikale Islamisten vor relevanten Gesprächen nach Mikrofonen suchen

„Das Bundeskriminalamt hat uns am 04.02.2016 aufgefordert,belastbare Belege zu den Informationen zu liefern, wollte eine verkabelte VP-01. Das ist natürlich quatsch! Es war nicht möglich konspirative Technik einzubringen ohne zu gefährden“, lässt KHK M. den Atem von Obleuten, Medienvertretern und Zuschauern stocken.

„Man kam natürlich am geschriebenen, gesprochenen Wort nicht mehr vorbei“, erklärt KHK M. den Umstand, warum die Polizeien trotzdem am späteren Attentäter dran bleiben konnten. „Dann hat der Herr Rehkopf Gott sei Dank die Kurve gekriegt und den Sachverhalt so geschrieben, dass die Polizei das begleiten musste.“

Union in Panik

Alexander Throm und Volker Ullrich üben Kritik während FDP, Grüne, Linke und SPD die Angaben des KHK M. vor der Kamera der Tagesschau gegen 18:25 Uhr einordnen. Einen Grund an den Inhalten und der neuen Richtung zu zweifeln gibt es nicht. Zeuge KHK M. hat die Qualität seiner Aussagen bereits in anderen Untersuchungsausschüssen und auch im Verfahren gegen Abu Walaa unter Beweis gestellt.

Für Throms und Ullrich stellt sich die Frage, warum KHK M. nicht bereits vor dem Untersuchungsausschuss in NRW und dem Berliner Abgeordnetenhaus ähnliche Anschuldigungen erhoben hat. KHK M. setzt seine Aussage fort. Nichts bringt ihn aus der Ruhe. Sein Antwortverhalten ist stets konstruktiv, ruhig und überzeugend. NRW und Berlin waren Landesausschüsse, deren Befugnisse nicht bis in die Bundesebene gereicht haben. Darüber hinaus sei er nicht in diese Richtung befragt worden.

Der erfahrende Ermittler bleibt in den Aussagen präzise. Zu Gerüchten um den LKW des Attentäters befragt, äußert er was ihm zugetragen wurde und grenzt in aller Deutlichkeit ab, was unbelegbare Gerüchte sind, um nicht selbst Gerüchte in die Welt zu setzen. Ein Grund an der Integrität des langjährigen Ermittlers zu zweifeln, gibt es am Ende der Aussage nicht.

NSU und andere Erfahrungen

Der wesentliche Grund für die späte Offenlegung des Sachverhaltes dürfte in den Erfahrungen aus dem NSU-Kontext liegen. Eine Aussage vor einem Landesuntersuchungsausschuss wäre – mangels Befugnis des Gremiums in Bundesangelegenheiten tätig zu werden – wirkungslos verpufft. Auf dem Dienstweg hatte KHK M. bereits im Kontakt mit der Generalbundesanwaltschaft erfahren müssen, dass seine Informationen zu dem Vier-Augen-Gespräch ohne Konsequenzen blieben.

Ein bis zwei Jahre wären ins Land gegangen, bis ein Bundesausschuss sich mit einer solchen Information aus einem Landesausschuss befasst hätte. Zeit genug, um Akten zu verlieren, Menschen aus Positionen weg zu versetzen und auch Zeit, in der Lebenslinien relevanter Zeugen mitunter abrupt enden könnten. Das zeigten die Entwicklungen im NSU-Zusammenhang. Todesfälle, so zahlreich und in jungen Jahren, dass kaum jemand noch an natürliche Umstände glauben mag.

Rückendeckung und Glaubwürdigkeit

Schon die vorangegangene Aussage der Ermittlerkollegin Kriminaloberkommissarin KOK S. machte deutlich, wie die Arbeitsatmosphäre und Dienstauffassung im LKA NRW ist. Zeugin KOK S. schilderte in ebenso ruhiger, professioneller und konsistenter Art, wie Ermittlungen im LKA NRW in der EK Ventum geführt wurden. Nach einem komplizierten Sachverhalt gefragt, erbittet sie sich eine kurze Zeit, um Notizen aus ihrer Handakte anzufertigen, um dann sachkundig und geordnet vortragen zu können.

Die Handakte des KHK M. umfasste geschätzt 300 bis 400 DinA4-Seiten mit etwa 40 Zeilen pro Blatt. Als in den letzten zwei Stunden des Abends Kriminalhauptkommissar KHK C. vom LKA Berlin zur Aussage platznimmt, liegt vor ihm ein einzelnes Din A4-Blatt, auf das er blicken kann. Im Protokoll dokumentieren die Stenografen die Aussagen, die auf Arbeitsüberlastung, unterlassene Kontrolle, blindes Vertrauen in seine Mitarbeiter und einen eklatanten Mangel an Fachkompetenz schließen lassen.

30. Sitzung am 07.11.2019 – Schwer verständlich

Eine Erinnerung lässt sich nicht erzwingen und wer sich nicht erinnert, kann dafür kaum zur Verantwortung gezogen werden. Doch ist das glaubwürdig?

Kriminaloberkommissarin A. B. war beim LKA Berlin tätig. Polizisten sind immer wieder die ersten und wichtigsten Zeugen, wenn es darum geht, dass Strafverfahren auch zu einer Verurteilung des Täters führen. Die Grundlage dafür: Die rechtssichere Herstellung einer Kausal- und Faktenkette. Kriminelles Verhalten muss erkannt werden, die Beweise dafür gesammelt und dokumentiert sein und Monate bis Jahre danach einem Gericht zur Verfügung stehen.

An dem Novembernachmittag, nicht einmal drei Jahre nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz, ist die Erinnerung der 38-jährigen Zeugin A.B. an vielen Stellen verblasst. Ihr fehlte es an Überblick, gibt sie zu Protokoll. Letztlich sei es auch die Aufgabe der Vorgesetzten gewesen, diesen Überblick zu haben. Dennoch wurde sie nach dem Anschlag dazu abgestellt, den Informationsfluss des LKA an andere Behörden zu steuern und war in der BAO City tätig.

Kriminaloberkommissarin A.B. vom LKA 54

Erinnerungslücke

Zuletzt will Zeugin A.B. Anfang November 2016 mit dem Fall des späteren Attentäters zu tun gehabt haben. Das steht im Widerspruch zu einer Datenbankabfrage, die sie am 19.12.2016 vornahm. An diesem Tag kehrte sie aus einem dreiwöchigen Urlaub zurück, arbeitete E-Mails ab und suchte in der POLIKS-Datenbank nach dem späteren Attentäter, der nur wenige Stunden darauf den Anschlag am Breitscheidplatz begang.

Konstantin von Notz (Grüne) zweifelt an der Glaubwürdigkeit der Zeugin, die in wenigen Minuten widersprüchliche Aussagen liefert: „Haben Sie da kein Störgefühl?“. Mehr noch: Zeugin A.B. kann sich nicht mehr erinnern, was der Anlass der Datenbankabfrage war. „Spätestens am nächsten Tag müsste ihr doch dieser Zufall selbst aufgefallen und auch in Erinnerung geblieben sein,“ sagt von Notz.

Die widersprüchlichen Erinnerungslücken nehmen überhand. Obwohl sie die einzige Polizistin ist, die sich mit den Anrufen befasste, die der spätere Attentäter in italienischer Sprache führte, ist nicht mehr nachvollziehbar, mit wem der Attentäter telefonierte. Aufzeichnungen dazu hat die Zeugin offenbar nicht. Keine Gesprächsnotizen und keinerlei Erinnerung.

Kuriose E-Mailpostfächer

Als es in den beiden Monaten nach dem Anschlag darum geht, Beweise zu sichern und Hinweise entgegen zu nehmen, soll es die Technik sein, die der Dokumentation Grenzen setzte. Täglich habe sie ihr E-Mail-Postfach löschen müssen, beteuert die Zeugin.

Während einerseits terrabyteweise Videomaterial an Hinweisen aus der Bevölkerung entgegengenommen wurden, hatte das Postfach von Zeugin A.B. die Kapazitätsgrenzen zu schnell erreicht. Pech für die Aufklärungsinteressen des Ausschusses. Die Obfrau der Grünen und Polizistin Irene Mihalic ist fassungslos über derartige Arbeitsbedingungen.

Methodenkompetenz

Ihr Wissen über die gesammelten Erkenntnisse strukturiert darzustellen, gelingt der Zeugin auch auf Einladung von Mahmut Özdemir (SPD) nicht. Welche Kontakte in welche Kreise hatte der Attentäter? Das muss in den Bereich des Überblicks fallen, den die Zeugin nie gehabt haben will.

Anlässlich eines Aktenvorhaltes zu Videoauswertungen, die an der Perleberger Straße durchgeführt wurde, überfliegt die Zeugin das Dokument und gibt bereits in den ersten Sekunden zu erkennen, vom Inhalt nichts zu wissen. Sie erinnert wenig, aber dann doch sehr schnell, was sie nicht weiß.

Anzeichen für rechtsradikale Hintergründe bei Kollegen, die durch den Austausch von Nazi-SMS aufgefallen sind, habe es nicht gegeben. „Man sieht den Menschen nur vor den Kopf,“ sagt die Zeugin. Vom Fall eines ihrer Kollegen, der in Drogen- und Rotlichtgeschäfte verwickelt war, will sie ebenfalls noch nichts mitbekommen haben.

Die Aussage der Zeugin A.B. lässt Zweifel aufkommen, wie mit deutlich als nachlässig dokumentierten Ermittlungserkenntnissen strafrechtliche Verfahren geführt werden sollen.

Zubrot oder Hauptberuf

Ein Spitzel des LKA-NRW – im neutralen Ermittlersprech als Vertrauensperson VP-01 bezeichnet – ist auch in dieser Sitzung ein Thema. Schon nach dem ersten Treffen erkannte die VP-01 die Gefährlichkeit des späteren Attentäters und lieferte als Erkenntnis aus einer Autofahrt, bereits einen Beleg für eine konkrete Anschlagabsicht des späteren Attentäters.

Seine Vertrauenspersonenführer (VPF-2 und VPF-3) teilen die Einschätzung und vertrauen dem langjährig tätigen Spitzel. Martina Renner (Linke) hinterfragt, wie Behörden mit Spitzeln und Informanten verfahren. Klar ist – das legen die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) fest – dass die Spitzeltätigkeit nicht der Haupterwerb sein darf.

VPF-03

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Ein Informant soll kein zu starkes Eigeninteresse entwickeln und zum Gelderwerb möglicherweise dann noch Informationen erfinden oder gar ausgeforschte Menschen zu melderelevanten Verhaltensweisen anstacheln.

Wo VPF-02 in der vergangenen Sitzung vor vierzehn Tagen noch strauchelte, ist VPF-03 besser vorbereitet. Er macht deutlich, dass ein Haupterwerb bei der VP-01 nicht gegeben gewesen sei. Die Phase, in der Informationsgewinnung zum Haupterwerb geeignet gewesen sei, sei nicht länger als sechs Monate, maximal ein Dreivierteljahr lang gewesen.

Videos, Videos, Videos

Die Herkunft der Videos, die der spätere Attentäter im November 2016 vom Breitscheidplatz machte und in denen er auch seine Entschlossenheit zu einem Anschlag bekräftigte, dürfte unbekannt bleiben. Geheimdienste sichern sich diese wechselseitige Diskretion zu und Regierungen tragen dies mit.

Rund zwei Stunden Beratungssitzung an diesem Tag mit Vorladung einer BND-Vertreterin fanden hinter verschlossenen Türen statt. Die Frage, ob ausländische Dienst bereits vor der Tat von den Plänen des Attentäters wussten, aber erst 10 Tage nach der Tat diese Videos deutschen Geheimdiensten verfügbar machten, scheint eine willkommene Ablenkung zu sein.

Eigentlich müsste sich der Ausschuss mit der Ermittlerarbeit von Verfassungsschutzämtern und der Informationslage beim Bundesnachrichtendienst sowie der Bundesregierung in den 14 Monaten vor dem Anschlag befassen.

„Wir haben heute erlebt, dass Behörden sich gegenseitig die Verantwortung zuschieben, das Abläufe nicht klar sind und die Bundesregierung nicht auf unsere Fragen vorbereitet war, die eigentlich seit letzter Woche klar sind,“ kritisiert Benjamin Strasser (FDP). „Wir haben erlebt, das im Bundesamt für Verfassungsschutz offensichtlich nicht protokolliert worden ist, von wem überhaupt das Video entgegen genommen worden ist.“

Auch Irene Mihalic glaubt den Ausführungen der Bundesbehörden nicht: „Man hat hier offensichtlich ein Konstrukt gefunden, dass man es selber angeblich nicht mehr nachvollziehen kann, weil Eingangsstempel fehlen und Übertragungswege nicht nachvollziehbar sind. Es erscheint mir herbei konstruiert. “

Fragen bleiben

Zu klären ist, ob die Videos bereits vor dem Anschlag bei ausländischen Partnerdiensten vorlagen, welcher deutsche Dienst zu welchem Zeitpunkt die Videos bekam und warum diese Videos nicht in der offiziellen Chronologie gelistet sind, die zum Anschlag erstellt wurde. Die Aussichten auf Antworten: Eher dünn.

Polizeioberkommissar Volker Schotten


Dünn war auch die Aussage des Polizeioberkommissars der Bundespolizei Volker Schotten. Sein Bezug zum Ausschuss: Gemeinsam mit einem Kollegen nahm er den späteren Attentäter bei einem Ausreiseversuch in die Schweiz in Friedrichshafen fest.

29. Sitzung am 24.10.2019 – Lukrative Spitzeldienste

Zu später Stunde nutzt Martina Renner die Gelegenheit, einen V-Mann-Führer eindringlich zu befragen und zeigt Probleme beim V-Mann-Wesen auf.

Was ein Spitzel für Polizei und Verfassungsschutz so verdiene, weiß Martina Renner (Linke) eigentlich bereits aus ihrer Erfahrung rund um die NSU-Ausschüsse. „Also bei zwölf Treffen jeweils rund 200 Euro steuerfrei abgreifen?“ rechnet Renner vor. Zeuge VPF-2 ist Vertrauenspersonenführer bei der Polizei NRW und darf auf diese Fragen nach der nachrichtendienstlichen Methodik nicht antworten.

Die Reaktionen im Saal auf diese und andere Fragen sprechen Bände. David Diehl vom Bundeskanzleramt verkrampft sichtlich in seinem Stuhl, blickt angespannt herüber zu den Vertretern des Landes NRW, wenn diese eigentlich intervenieren müssten. Auf Seiten der Regierungsparteien ist es Volker Ullrich (CSU), der sich hörbar über die Fragen von Martina Renner echauffiert. Auch aus Reihen der SPD gibt es störendes, deutlich wahrnehmbares Gemurmel.

Martina Renner lässt sich nicht verunsichern. Wenn sich Herr Ullrich mal so intensiv mit dem Thema V-Mann-Wesen befasst hätte, wie sie das seit Jahren tue, dann wäre ihm klar, dass es keine haltlosen Spekulationen seien, mit denen sie an diesem Abend aneckt, gibt Renner zu Protokoll.

Ungeschwärztes

Martina Renner führt aus, was sich aus den Akten des OLG Celle zum Abu Walaa-Prozess schließen lässt. Akten, die offenbar nur wenig geschwärzte Anteile enthielten und offen legen, dass mindestens vier Vertrauenspersonen der Behörden in der Szene eingesetzt waren. Die zwölf Treffen der VP-01, an denen Informationen geliefert wurden, summieren sich nach Renners Erfahrungen auf 2400 Euro. Steuerfrei. Renner konfrontiert weiter.

Der Adressat ist dabei weniger die VPF-2, als die anwesenden Vertreter aus Regierungsbehörden. Sie stellt die Frage, wie bei einer derartigen Einnahmehöhen die Tätigkeit der Vertrauenspersonen noch in Einklang mit Vorschriften zu bringen ist, über die nur so viel bekannt ist, dass die Einnahmen nicht zum Haupterwerb der Spitzel werden dürfen.

Renner fragt, wie es sein kann, dass mit Geldern der Behörden eine Art Tarnfirma aufgebaut wurde, in der die Vertrauenspersonen beschäftigt waren. Antworten erhält sie nicht, aber die Fragestellungen verdeutlichen die Probleme, die das Spitzelwesen aufwerfen.

„All das sind Erfahrungswerte aus den letzten Jahren,“ macht Martina Renner deutlich. „Wenn es um V-Leute geht, gibt es immer wieder Anzeichen dafür, dass der angebotene Spitzellohn eine Nachfrage schafft. Das wirkt sich natürlich auf die Qualität der Informationen aus. Die dauerhafte Alimentierung ist prinzipiell untersagt. Wenn aber eine Quelle im Umfang liefert, wie die VP-01 und über zehn Jahre für die Behörden aktiv ist, dann muss das hinterfragt werden.“

Stelldichein der Vertrauenspersonen

Insgesamt vier Vertrauenspersonen hatten nach den Unterlagen des OLG Celle im Umfeld des späteren Attentäters zu tun. Lediglich jedoch die VP-01 lieferte Informationen. Für den V-Mann-Führer VPF-2 war das keine Auffälligkeit. Schließlich sei die VP-01 aufgrund der speziellen persönlichen Fähigkeiten zum Einsatz gebracht worden. Ursprünglich habe man mit VP-01 nur im Bereich der organisierten Kriminalität zusammengearbeitet.

Ein weiterer Verdacht steht an diesem Abend im Raum. Gab es eine Beteiligung eines Geheimdienstes – z.B. des Verfassungsschutzes – beim Einsatz der VP-01. Für den Vertrauenspersonenführer VPF-2 ist das undenkbar. VPF-2: Der Terminus drückt aus, dass eine Vertrauensperson immer mit mehreren Vertrauenspersonenführern zusammenarbeitet. Im Fall der VP-01 waren insgesamt 3 Vertrauenspersonenführer im Einsatz. Urlaubs- und krankheitsbedingt wechselte man sich ab. Für sein Kollegen legt VPF-2 seine Hand ins Feuer, das ein Kooperation mit Geheimdiensten nicht stattgefunden habe.

Ebenfalls habe es keine Doppelung des Mobiltelefons gegeben, dass die VP-01 zusammen mit dem späteren Attentäter beschafft hatte.

Entschlossen zur Tat

Schon Ende 2015, als der spätere Attentäter in dschihadistischen Kreisen in Deutschland auftauchte, fiel er der VP-01 ins Auge. Zunächst habe es eine Sprachbarriere gegeben, da die VP-01 nicht arabisch spräche, führt der VPF-2 aus. Die Absicht einen Anschlag zu begehen und die Radikalität im Auftreten seien aber sofort Anzeichen gewesen, dass man es mit einem relevanten Gefährder zu tun habe. Die VP-01 baute den Kontakt zum späteren Attentäter schnell aus.

Fahrten mit dem Auto von NRW zum Besuch von Abu Walaa in Hildesheim und die Unterstützung beim Kauf eines Mobiltelefons sind dokumentiert. Spätestens aber wenn es um Dienste als Sprachmittler bei Behördengängen geht, wird die Rolle der VP-01 deutlich fragwürdig, denn das Engagement führte dazu, dass der spätere Attentäter zusätzliches Geld erhielt.

Auch muss es mehrere Straftaten gegeben haben, die die VP-01 begangen hat. Genaue Angaben dazu sind in öffentlicher Sitzung nicht möglich, denn sie würden die Enttarnung der VP-01 ermöglichen.

So ungeklärt, die die Frage nach der Henne und dem Ei bleibt auch die Frage, ob die VP-01 die Radikalisierung des Attentäters beobachtete oder beförderte. Der spätere Attentäter war zunehmend eingebettet in ein Umfeld dem er vertrauen konnte und vertrauen sollte. Ein Umfeld, das Straftaten begehen konnte, jedoch keine nennenswerten Strafen dafür erfuhr und stets mit Geld- und Transportmitteln ausgestattet war.

LKA Berlin


Der Ausschuss befragte an diesem Tag auch den Ermittler des LKA Berlin Kriminaloberkommissar G.K. zu seinen Wahrnehmungen entlang des Falles. G.K. war 2015 mit erstmals mit dem Fall des späteren Attentäters befasst und erkannte sogleich die Brisanz. Damals 25 Jahre alt, sollte G.K. erstmals einen Fall eigenverantwortlich bearbeiten und die Ermittlungen leiten. Dies lehnte G.K. jedoch ab und bat darum, nicht hauptverantwortlich zu sein. Seine Aussage verläuft kooperativ, aufgeschlossen und bemüht, die Fragen der Obleute bestmöglich zu beantworten.

Ähnlich gewissenhaft führte G.K. die Vernehmung von Bilel ben Ammar durch, als sich dieser im Februar 2016 für einen Handydiebstahl verantworten musste. Rund 23 Seiten Vernehmungsprotokoll entstanden laut Irene Mihalic (Grüne) geradezu vorbildlich: „Langsam komme ich zu dem Schluss, dass er die Leitung besser übernommen hätte. Denn so aufgeräumt und motiviert wie er waren seine Kollegen offenbar nicht“, twittert Mihalic.

Immer wieder Rechtsradikale

Irene Mihalic ist verwundert, wie das LKA Berlin beim durch ben Ammar gestohlenen Handy zwar eine Auswertung vorgenommen hat, jedoch nach der Auswertung nicht weitere Ermittlungsansätze verfolgte. Auf dem Handy fanden sich Bezüge zur rechtsradikalen Szene. Nachrichten, die mit „Sieg heilchen“ unterschrieben waren, sowie Bilder der Reichskriegsflagge zogen aber keine erkennbaren Ermittlungen nach sich.

Immer häufiger entwickeln sich rund um das Breitscheidplatzattentat Schnittmengen zwischen Rechtsradikalismus und Dschihadismus. Die augenfälligsten bereits am Tatabend, als der Straftäter, Rechtspopulist und Pegidainitiatior Lutz Bachmann von einem tunesischen Moslem erfahren haben wollte, seinen Tweet dazu aber recht bald wieder löschte. Auffällig ist auch, dass die Tatwaffe, mit der der Attentäter den LKW-Fahrer erschoss aus derselben Charge stammt, wie eine Waffe des NSU-Trios.

Auch Bezüge zu den Attentätern in Paris wurden durch die Protokolle aufgezeigt, mit denen die Obleute arbeiten konnten. Bekannt ist, dass in Frankreich ein Mitglied der Identitären Bewegung Waffen an Dschihadisten verkauft hat, die 2015 bei einem Anschlag verwendet wurden.

Team Demokratische Opposition

Die Fragen der Regierungsparteien sind beim Zeugen VPF-2 deutlich früher zu Ende, als das beim Berliner LKA-Zeugen der Fall gewesen ist. Konstantin von Notz (Grüne) wundert sich, wie es sein kann, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz ein Behördenzeugnis ausstellte, aber die relevanten Vertrauenspersonenführer dazu weder befragte, noch beteiligte. Der Ausschussvorsitzende Klaus-Dieter Gröhler greift harsch ein, mokkiert das Redezeitende und lässt das Fragerecht zur FDP wechseln. Nahtlos setzt Benjamin Strasser (FDP) fort und verhindert so, dass der aufgebaute Druck verpuffen kann.

Strasser will auch wissen, warum man im LKA NRW den späteren Attentäter eindeutig als Gefährder erkannte, das Bundeskriminalamt jedoch in Person des Kriminalhauptkommissars Rehkopf „erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit“ der Quelleninformationen hegte. VPF-2 führt das darauf zurück, dass Aktenstudium allein nicht ausreichend sei, um die Qualität der Quelleninformationen zu bewerten.

Der Vollständigkeit halber

Mit dem Zeugen Kriminalhauptkommissar K. aus dem LKA NRW befasst sich der Ausschuss nur rund sechzig Minuten. K. war im Rahmen der Wochenendbereitschaft im Einsatz, als sich der spätere Attentäter Ende Juli 2016 von Berlin auf den Weg zur deutsch-schweizerischen Grenze auf machte, um das Land zu verlassen. Da zu diesem Zeitpunkt die Bearbeitung des Falles zwischen LKA Berlin und LKA NRW wechselte, wurde aus Berlin die Telefonüberwachung des späteren Attentäters gesteuert.

Dort entschied sich dann auch ein Oberstaatsanwalt für zwei Szenarien. Eine Ausreise in das europäische Ausland könne problemlos erfolgen. Eine Ausreise in Richtung Türkei indes, bei der eine Weiterreise nach Syrien nahe gelegen hat, hätte verhindert werden sollen. Die Überwachungsprotokolle legen nahe, dass der spätere Attentäter nach Tunesien zurückkehren wollte.

Als er in Friedrichshafen aufgegriffen wurde, führte er zwei Sätze an italienischem Passpapiere mit sich. Der Gewahrsam dauerte jedoch nur kurz an. Zum Erstaunen der NRW-Beamten und des späteren Attentäters, der geradezu enthusiastisch die Polizeidienststelle verlassen habe.

28. Sitzung am 17.10.2019 – Hauptsache weg

Gefährder abgeschoben – Terrorgefahr gebannt? Im Innenministerium war man davon überzeugt und verzichtete auf die Strafverfolgung eines möglichen Mittäters.

Die Zeugen Dr. Günter Drange, Jens Koch und Dr. Emily Haber sagen zu ihrer Tätigkeit im Innenministerium im Januar 2017 nahezu übereinstimmend aus. Wenige Tage nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz war handeln angesagt. Der öffentliche Druck die insgesamt 360 ausreisepflichtigen dschihadistischen Gefährder schnellstmöglich abzuschieben, sei groß gewesen.

Strafverfolgung? Nein!

Einhellig berichten die drei Zeugen des Tages, dass sie von den nachlässig geführten Vernehmungen des möglichen Komplizen Bilel ben Ammar nichts gewusst und die Protokolle nicht gelesen hätten. „Wer bin ich denn, dass ich das überpüfe“, meint Jens Koch und erfährt von Irene Mihalic (Grüne): „Sie sind die zuständige Fachaufsicht“.

Jens Koch, BMI


Eiligst wurden Passersatzpapiere beschafft und auf die zuständigen Behörden eingewirkt Abschiebungen durchzuführen. „Ich vermute, dass sie konstruktiven Druck ausgeübt hat“ äußert die ehemalige Staatssekretärin Haber sich zum Verhalten einer Mitarbeiterin ihres Hauses.

Abschiebung vor Strafverfolgung – wie kurzsichtig diese strategische Entscheidung ist, führen im Laufe der Sitzung die Obleute von FDP, Grünen und Linke den weiterhin gänzlichen von sich überzeugten Zeugen vor Augen.

Während dem Untersuchungsausschuss ein rund dreißigseitiges Vernehmungsprotokoll ben Ammars vorliegt, in dem es um einen Handydiebstahl geht, der im Jahr vor dem Anschlag untersucht wurde, wirken die Vernehmungen nach dem Terroranschlag auf Martina Renner (Linke), als „wären sie von einem Polizisten aus einer mittleren Kleinstadt durchgeführt worden“.

Die wenigen Seiten an Vernehmungsprotokollen lassen darauf schließen , dass niemand im Bundeskriminalamt ernsthaft ermitteln sollte. Benjamin Strasser (FDP) arbeitet die zeitlichen Abläufe heraus, die nahelegen, dass schon nach der ersten Vernehmung kein Interesse mehr bestanden haben kann, den möglichen Komplizen ben Ammar vor Gericht zu bringen.

Provinzielle Perspektiven
Dem international agierenden Dschihadismus hatte das Innenministerium offenkundig wenig entgegen zu setzen. Die zeitlichen Abläufe wirken geradezu panisch. Auf Nachfragen der Obleute gestehen Drange und Koch ein, dass der Fall des möglichen Komplizen ben Ammar für sie mit der Abschiebung beendet war. Eine Koordinierung mit Tunesien, wie vor Ort mit dem Gefährder und möglichen Terroristen umgegangen wird, gab es nicht. Man wolle sich nicht in die Angelegenheiten eines anderen Staates einmischen und der Fall sei mit Abflug aus Deutschland quasi erledigt. Was aus ben Ammar nach der Abschiebung wurde, musste die Bundesregierung zu Anfang dieses Jahres erst wieder in Erfahrung bringen.

Dr. Drange, BMI

„Aus den Augen, aus dem Sinn? Und was machen Sie, wenn ein abgeschobener Gefährder dann in Djerba ein Attentat auf deutsche Touristen verübt?“ konfrontiert Martina Renner die sichtlich desinteressierten Beamten.

Kein Attentat mehr auf deutschem Boden, scheint die Devise gewesen zu sein. Perfide: mit der Abschiebung nach Tunesien oder in andere Herkunftsländer werden die abgeschobenen Gefährder möglicherweise zu wichtigen Multiplikatoren und können, mit Orts- und Strukturkenntnissen ausgestattet, die nächste Generation von Attentätern ausbilden.

Die überhastete Abschiebung wäre nicht nötig gewesen, wie Konstantin von Notz (Grüne) der ehemaligen Staatssekretärin (heute deutsche Botschafterin in den USA) vorhält. Nach Ansicht der Berliner Staatsanwaltschaft hätte ben Ammar für mindestens sechs Monate aufgrund der in seinem Fall vorhandenen Bewährungsstrafen in Haft genommen werden können. Zeit genug, um Asservate auszuwerten, die auf eine Mitwisserschaft und mögliche Beteiligung am Anschlag hindeuteten.

Dr. Emiliy Haber, BMI

Versäumnisse

Überzeugt trägt Emily Haber vor, alles getan zu haben, was nach damaligen Kenntnisstand möglich und sinnvoll gewesen sei. Die Arglosigkeit gegenüber dem Bundeskriminalamt BKA, das nach der ersten nachlässig geführten Vernehmung signalisierte, aus ben Ammar sei nichts heraus zu bekommen, beeindruckt.

Das blinde Vertrauen in den damaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, der Haber „konsistent dargestellt“ habe, keine V-Leute im Umfeld des Attentäters platziert zu haben, wird ihr an diesem Abend durch Konstantin von Notz genommen: „Wussten Sie, dass der Verfassungsschutz seit Oktober 2018 eine Quelle im Umfeld des Attentäters geführt hat?“ Haber verneint kleinlaut. Die mittlerweile haltlose Darstellung Maaßens, es habe sich um einen „reinen Polizeifall“ gehandelt, hatte Haber offenbar stets akzeptiert.

Informationsflüsse

Auch im Innenministerium in Berlin will man erst am späten Nachmittag des Folgetages von der Identität des Attentäters erfahren haben. In Köln scheint diese Information schon am frühen Morgen – „es war noch dunkel“ sagte Polizist E. vom Landeskriminalamt NRW aus – verfügbar gewesen zu sein. Die Rolle des dort ansässigen Bundesamt für Verfassungsschutz, sowie das Handeln des damaligen Behördenleiters Hans-Georg Maaßen wird mit jeder Ausschusssitzung fragwürdiger.

Zur Einsetzung der ehemaligen Verfassungsschutzmitarbeiterin Eva H., die zunächst die Rolle von Dr. Michael Vogel vom Bundesinnenministerium inne hatte, konnte an diesem Tag wenig Neues in Erfahrung gebracht werden. Wegen ihrer direkten Befassung mit dem Umfeld des Attentäters musste Eva H. nach rund sechsmonatiger Mitarbeit Anfang Oktober 2018 den Untersuchungsausschuss verlassen. In Zeugenanhörungen hatte Eva H. insbesondere bei Verfassungsschutzzeugin Lia Freimuth überdeutlich interveniert.

Blindes Vertrauen in das Bundesamt für Verfassungsschutz, das schon im Bereich des Rechtsterrorismus beim NSU demonstriert hat, terroristische Strukturen oft eher zu befördern, als zu verhindern, scheint beim Innenministerium weiterhin an der Tagesordnung zu sein.

Geheimdienstvideo

Am Rande beschäftigt sich der Untersuchungsausschuss nun auch mit einem Drohvideo des Attentäters, das drei Wochen vor der Tat aufgenommen wurde und dem Verfassungsschutz, BND und BKA am 30.12.2016 vorlagen. Noch unklar ist, welcher ausländische Geheimdienst das Video übermittelt hat und auf welchem Wege man an das Video gelangte. Es handelt sich offenbar um ein Handyvideo, das mit einem noch unbekannten Gerät aufgenommen oder aus einem Internetstream mitgeschnitten geschnitten wurde.

Fakt ist, dass die Bundesregierung den Untersuchungsausschuss derzeit nicht dabei unterstützt in Erfahrung zu bringen, wann dieses Drohvideo vorgelegen hat. Man weigert sich, beim ausländischen Partnerdienst nachzufragen. Zur versprochenen Aufklärung taugt ein solches Verhalten nicht.