Anekdotische Evidenz ist hier nicht gefragt
Die Expertenanhörung „Gewaltbereiter Islamismus und Radikalisierung“ soll den Obleuten im Breitscheidplatz-Untersuchungsauschuss das Fundament für ihre Arbeit liefern.
Eine Runde aus sechs Männern und zwei Frauen – selten sind so viele Experten gleichzeitig vor einem Untersuchungsausschuss, um den Obleuten Wissen zu vermitteln. Neben Vertretern aus der Wissenschaft berichten Experten aus Verwaltung und Zivilgesellschaft vor allem zum Thema Prävention. Auch die Sicherheitsbehörden sind mit einem LKA-Mann und einem ehemaligen Verfassungsschützer repräsentiert. Ein ausgewogenes Panel an Expertise, das von den Fraktionen eingeladen wurde.
Fragwürdiger Experte
Auch die AfD hat mit Imad Karim einen Experten eingeladen, der offenbar wegen seiner Zugehörigkeit zum muslimischen Kulturkreis und seiner journalistischen Arbeit berufen wurde. Karim führt aus, der Islamismus würde Politik und Religion vermischen. Ein Allgemeinposten aus der Diskussion der letzten Jahre. Karim provoziert, rät Muslimen dazu, ihren Glauben an den Propheten Mohammed zu überwinden, und zieht Vergleiche zu den Rassengesetzen der Nationalsozialisten. In einer kurzen nicht-öffentlichen Beratungssitzung besprechen die Obleute, wie mit dem offensichtlich nicht unabhängigen Experten zu verfahren ist. Karim sitzt seit März 2018 im Kuratorium der von Erika Steinbach geleiteten AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung.
Schlussendlich gibt sich Karim beleidigt, dass außer von der AfD-Obfrau Beatrix von Storch überwiegend keine Fragen an ihn gerichtet werden. Es scheint, als verwechsele die AfD den Untersuchungsausschuss mit einer Wahlkampfveranstaltung oder einem der montäglichen Pegida-Aufmärsche.
Radikalisierung braucht keine Religion
Die Ursachen für eine Radikalisierung sind vielfältig und nicht vorhersehbar. Die Expertenrunde beschreibt, dass Radikalisierung kein linearer Prozess ist und letztlich ausschließlich in den Menschen begründet ist, die sich radikalisieren. Anlässe gäbe es jedoch zuhauf. So neigten ausgegrenzte und sozial isolierte Jugendliche eher dazu, sich radikalen Positionen zu verschreiben, um sich anschließend darüber zu definieren. Für manche führe die Radikalisierung dann auch zum Terrorismus
Alexander Ritzmann vom Brandenburischen Institut für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS) beschreibt den Nährboden für Hass und Gewalt. Terroristen rekrutierten Menschen auf Basis eines Ungerechtigkeitsempfindens und des emotionalen Bedürfnisses nach Aufwertung des eigenen Lebens. Dazu kämen Verschwörungstheorien als Bindeglied zwischen Wut und Ideologie. Doch ob die Rekrutierung erfolgreich sei, könne nicht vorher gesagt werden: „Aus einer Familie geht ein Sohn in den öffentlichen Dienst, ein anderer in den Dschihad. Warum? Wissen wir nicht.“ Letztlich, so Ritzmann, gäbe es auch zu wenige Terroristen, um ein verlässliches Muster einwandfrei identifizieren zu können.
Konspirationsbezogen urteilen
Sindyan Qasem warnt davor, nur anhand der Religionszugehörigkeit zu urteilen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Zentrum für islamische Theologie in Münster beschreibt, dass sich Radikale zwar oft innerhalb der Religionsgruppen bewegen und dort auch rekrutieren würden, sich dann aber schnell abschotten und konspirative Gruppen bilden. Auch Claudia Dantschke sieht die Ursachen für Radikalisierung nicht im Islam selbst begründet. Oft seien es „religiös-theologische Analphabeten“, emotional irritierte, ausgegrenzte, nicht integrierte Jugendliche, die bei Salafisten landeten. „Wer Religion sucht, kehrt meist schnell wieder ab“, berichtet die Expertin aus der Präventionsarbeit bei Hayat-Deutschland, einer Beratungsstelle für Deradikalisierung.
Nur entlang äußerer Merkmale zu urteilen, ist auch für den ehemaligen Verfassungsschützer Dr. Alexander Eisvogel keine Lösung. Zwar ließe sich durch Datensammlung viel erfassen, aber oft hinge es von der „Genialität des Bearbeiters ab“, einzelne Anzeichen zu deuten, zu verbinden und rechtzeitig wieder in die Lagebeurteilung einzubringen. Eine Genialität, die bei den Behörden im Fall des Breitscheidplatz-Attentäters fehlte, denn ihrer Einschätzung zufolge hätte es keine Anzeichen einer religiös-motivierten Radikalisierung gegeben. Alkohol- und Drogenkonsum hätten die Beamten wohl dazu veranlasst, den Attentäter nicht als Gefährder zu sehen.
Dass eine Gefährderansprache unterblieb, wunderte auch den Obmann der Grünen. „Wenn es V-Leute gab, die den Attentäter von NRW nach Berlin gefahren haben, dann hätte es sicher ja auch mal die Möglichkeit gegeben, mal eine Gefährderansprache zu machen“, umreißt Konstantin von Notz einen der kommenden Themenkomplexe des Ausschusses.
Präventionsarbeit
Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, dann soll die Ausbildung der Imame in Deutschland zentralisiert und organisiert werden, um der vermuteten Radikalisierung in Moscheen beizukommen. Die Organisation dessen obliegt derzeit dem Innen- und Heimatministerium. „Es gibt Rassismus, obwohl Biologie an Schulen unterrichtet wird. Es gibt Rechtsradikale, trotz Geschichtsunterricht“, warnt Dr. Abou Taam vom LKA Rheinland-Pfalz, der in einer zentralen Ausbildung der Imame keinen ultimativ wirksamen Ansatz für Prävention sieht.
Der Schlüssel für wirkungsvolle Prävention liege in der Jugend- und Familienarbeit. „Eltern und Angehörige müssen befähigt werden, Radikalisierungsprozessen entgegenzuwirken“, sagt Dr. Christiane Nischler-Leibl, die im bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales die Stabsstelle Radikalisierungsprävention leitet. Auch Claudia Dantschke spricht sich für die Zusammenarbeit mit Familien aus. Es müsse auch geschaut werden, wo die Familie zur Radikalisierung beitrage. Jugendlichen müsse der Aufbau einer Beziehungsebene zu einer neutralen, im Idealfall positiv bewerteten Person gelingen.
„Es ist ja nicht so, dass eine Person sagt: Ich bin radikal! Rettet mich!“, meint Taam. Radikale Identität sei ein Mechanismus der Aufwertung der eigenen Persönlichkeit. Taam betont, dass dies bei Rechts- und Linksradikalen ebenso verläuft.
Hohes Ziel
Dem Anspruch, mit der Arbeit des Ausschusses kommende Anschläge zu vermeiden, werden die Abgeordneten nicht gerecht werden können. Die Expertenrunde machte aber deutlich, dass mit einer Förderung der Präventionsarbeit und einer besseren Ausbildung der Ermittler ein wesentlicher Schritt für mehr Sicherheit gemacht werden kann. Letztlich kommt jedoch die beste Präventionsarbeit direkt aus der Gesellschaft und dem direkten Umfeld von Personen, die sich radikalisieren. Radikalisierte suchen nach einem Sinn, den sie im Leben und innerhalb der freiheitlich demokratischen Grundordnung bisher nicht gefunden haben. Unabhängig von Religion und gesellschaftlicher Position.
Der Artikel ist auf DerFreitag Community erschienen
Video: Daniel Lücking
Pressestatements zur Expertenanhörung „Gewaltbereiter Islamismus und Radikalisierungsprozesse“