Nach der Sommerpause geht es im Bundestag wieder um den Anschlag vom Breitscheidplatz. Relevante Akten fehlen. Zeugennamen werden jetzt wie Staatsgeheimnisse behandelt.
Voldemort lässt grüßen. Die Namen der aussagenden Zeuginnen sollen nicht zu früh genannt werden. „Sperrfrist: Vorstellung der Zeugin in der öffentlichen Sitzung“ heißt es in der E-Mail, die Freiherr Lippold vom Bredow aus dem Sekretariat des Untersuchungsausschusses eine Stunde nach Sitzungsbeginn versendet. Auch der Bundestagskorrespondent, der die nachrichtlich gehaltenen Artikel auf bundestag.de veröffentlicht, darf vorab keinen Zeugennamen mehr nennen. „Sachbearbeiterin 1, 2, 3 , BAMF“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) lautet die Personenbezeichnung nun nichtssagend.
Kontrollierbare Öffentlichkeit
Vor der Sommerpause erschienen die Dienstbezeichnungen sowie die Namen der Zeugen einige Tage vor der Sitzung auf den Seiten des Untersuchungsausschusses. Eine Information, die der interessierten Öffentlichkeit und Presse zur Verfügung gestellt wurde. Mit Hilfe des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, der offenbar zu Rate gezogen wurde, ging der Ausschuss nun ohne Ankündigung zum neuen Arbeitsprozedere über. Kein Hinweis darauf, dass der Saaldienst nicht einmal ein Namensschild auf dem Zeugentisch platzieren wird.
Namen wie „Rezvani“ oder „Öchsle“ bloß auf
phonetischer Basis korrekt zu erfassen, ist unmöglich. Zuschauende
stehen vor zusätzlichen Herausforderungen. Mehrfach nennt die erste
Zeugin des Tages den Namen ihrer Kollegin „Öchsle“. Die anonyme
Zeugenliste sorgt dafür, dass niemand weiß, das „Öchsle“ als nächste
Zeugin gehört wird. Mehrfach fällt auch ein Name, der mit dem Buchstaben
„C“ beginnt und möglicherweise zur noch umfassender anonymisierten
Zeugin Nummer drei des Tages „F.C.“ gehört.
Je
mehr dieser vermeintlichen Kleinigkeiten zusammenkommen, desto
deutlicher wird, dass der Öffentlichkeitsgrundsatz wohl unterwandert
werden soll. In einem Schreiben an den Ausschuss beklagte der Vertreter
des Innenministeriums Dr. Vogel Anfang Mai, dass durch die
Berichterstattung in den sozialen Medien eine „nicht kontrollierbare
Öffentlichkeit“ adressiert würde und daraus eine Staatsgefährdung
entstünde.
Obleute der CDU/CSU blenden
derweil das Thema aus. Weder der Ausschussvorsitzende Armin Schuster
noch Volker Ullrich oder Klaus Dieter Gröhler berichten via Twitter oder
Facebook über Inhalte aus den Sitzungen, die eigentlich eine
öffentliche Aufarbeitung des Themas leisten sollen. Auch bei den
SPD-Obleuten Fritz Felgentreu und Mahmut Özdemir findet in den
Social-Media-Kanälen keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den
Ausschussthemen statt.
Die Akten ran, bitte!
Hinter
den Kulissen des Ausschusses verschiebt sich die Aktenvorlage um
weitere Monate. Seit Beginn des Ausschusses würden sich die Obleute
gerne mit den Akten befassen, die dem Verfassungsschutz zu Gefährdern
aus dem Umfeld des Attentäters vorliegen. Mehrere Termine für die Vorlage unterchiedlicher Akten sind bis September 2019 – anderthalb Jahre nach Ausschussbeginn – inzwischen verstrichen. Das Inneninisterium
will nun relevante Akten in mehreren Chargen vorlegen: bis Dezember
2019, August 2020 und zuletzt Januar 2021 – wenige Monate vor Abfassung
des Abschlussberichts. Obleute und Mitarbeiter rechnen erneut mit bis zur Unkenntlichkeit geschwärzten Akten. Eine Farce.
Sitzungsgeschehen
Vor
allem der Druck, den die Verbindungsbeamtin des BAMF Steffi Öchsle
ausübte, war Thema in den Zeugenaussagen. Mehrere Ausrufezeichen in
E-Mail-Betreffen stehen symbolisch für die Prioritätensetzung im Umgang
mit Gefährdern. Abschiebung vor Strafverfolgung scheint die Devise. Selbst wenn das bedeutet, dass danach nicht mehr so richtig nachzuvollziehen ist,
wohin die abgeschobenen Gefährder gelangen. Ist der politische Wille
groß genug, dann ist die Vorarbeit für eine Abschiebung in kürzester
Zeit geleistet.
Politisch relevant für
den Druck, möglichst schnell Fakten zu schaffen, könnte die
Staatssekretärin im Innenministerium Emily Haber gewesen sein, die in
einer der kommenden Sitzungen aussagen wird. Schon der zeitliche Umfang
der Aussagen der BAMF-Mitarbeiterinnen macht deutlich, dass die
wesentlichen Inhalte derzeit nicht besprochen werden. Netzwerke von
Gefährdern und Terroristen sowie der staatliche Umgang damit lassen sich
auf diese Weise jedenfalls nicht untersuchen.
Das Eingangsstatement der Zeugin Dr. Julia Pohlmeier verleitet manch einen zu Jubel – doch die Freude hält nur kurz an.
Mehr Schein als Sein: Es dauert fast eine
Stunde, bis Zeugin Dr. Julia Pohlmeier ihr vorbereitetes
Eingangsstatement verlesen hat. Detailreich und nahezu erschöpfend gibt
sie Auskunft zu den komplexen Verfahren, die sie in den Jahren 2015 und
2016 leitete. Eloquent und kooperativ, aber auch selbstkritisch wendet
sie sich in den letzten Sätzen an die anwesenden Betroffenen des
Anschlags und versichert, dass das Bundeskriminalamt (BKA) mit der
Kommunikation rund um das Attentat das Beste versucht, dies aber nicht
immer erreicht habe. Pohlmeier gesteht ein, dass dadurch das Leid der
Betroffenen vergrößert wurde.
Frenetisch gefeiert
Ein flüssig und schlüssig vorgetragenes Eingangsstatement kann fehlgedeutet werden. Ein Mitarbeiter aus den Reihen der SPD schickt sich sogleich an, einen „Pokal ‚Beste Zeugin‛“ verleihen zu wollen. Nur wenige Sekunden nach dem geradezu euphorischen Tweet ist Zeugin Pohlmeier jedoch schon in Erklärungsnot und mit den Fragen von Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU) konfrontiert. Gröhler arbeitet zunächst heraus, dass Pohlmeiers Darstellung der LKW-Kaperung am Friedrich-Krause-Ufer nicht mit dem Erkenntnisstand übereinstimmt, den der Ausschuss hat, und deutliche Lücken aufweist.
Der spätere Attentäter hatte über mehrere Tage nach einem Fahrzeug gesucht, das er kapern konnte. Nicht einfach bei modernen Fahrzeugen, die über Diebstahlsicherungen und Wegfahrsperren verfügen und von daher nur mit dem Zündschlüssel zu starten sind. Unklar bleibt, warum der spätere Attentäter nach langer, erfolgloser Suche unmittelbar nach dem Fund eines geeigneten Fahrzeugs nicht dort blieb, sondern sich für etwa eine Stunde in die Fussilett-Moschee in Moabit begab. Eine von mehreren Stunden am Tag des Attentats sowie in den Tagen danach, die deutsche Sicherheitsbehörden bisher nicht nachvollziehen können.
Presse-Bashing
Wie
bereits in ihrem Eingangsstatement angedeutet, sparte Pohlmeier auch im
weiteren Verlauf der Sitzung nicht mit Kritik an der Presse und beklagt
vor allem die Verwendung des Begriffes „Netzwerk“, wofür die Presse in
den Monaten nach dem Anschlag immer mehr Indizien fand. Pohlmeier
tendiere eher zum Begriff „Strukturen“, würde dabei aber nicht von
terroristischen Strukturen reden wollen, weil diese eine zentrale
Steuerung implizierten, die es im Fall des „Einzeltäters“ aus ihrer
Sicht nicht gebe. Für das BKA scheint – trotz der deutlichen
Ermittlungslücken vor der Tat und auf der Flucht – die Einzeltäterthese
zum Dogma geworden zu sein, das offenbar unbedingt Bestand haben muss,
um nicht über Folgeermittlungen und Bezüge zu laufenden Verfahren zu
reden.
Dem Ausschuss gesteht das BKA an
diesem Tag immerhin den Erfolg zu, dass Zeuge Kriminalkommissar S.
gegenüber den Obleuten das Wissen um den aktuellen Aufenthaltsort des
möglichen Mittäters Bilel ben Ammar bestätigt, den er aus seiner
Tätigkeit als Verbindungsbeamter des BKA erfahren habe. Ein Tabu ist
aber weiterhin die Beteiligung der Geheimdienste – national wie
international.
Zeuge S. lässt sich
zumindest darauf ein, dass es nach dem Anschlag Gespräche gegeben hätte.
Aufgefordert zu präzisieren, mit welchen internationalen Geheimdiensten
der Verbindungsbeamte Kontakt hatte, flüchtet sich Zeuge S. zunächst in
die Differenzierung zwischen „dienstlichen“ und „informellen“
Kontakten. In der Folge verneint er dann, dass es dienstliche Kontakte
gab und macht zu den informellen Kontakten keine weiteren Angaben mehr,
weil die Erinnerungslücke zu groß sei und er nicht falsch aussagen
wolle.
Milieu versus Netzwerk
Zeugin
Pohlmeier führt aus, dass es keine Netzwerke gebe und dass die
Islamistenszene eher an das Fußballfanmilieu erinnere: viele
Gleichgesinnte, aber keine eindeutig identifizierbaren Straftäter. Ein
belustigender Vergleich angesichts der oftmals kritisierten Datenbanken,
mit denen die Länderpolizeien gerade in diesem Milieu Gewalttäter
erfassen. Auch vor dem Hintergrund der Vorgehensweise rund um den
G20-Gipfel 2017 in Hamburg eine nicht nachvollziehbare Argumentation.
Damals reichte die Anwesenheit in der Nähe von Ausschreitungen, um auf
das Radar der Ermittler und Gerichte zu kommen und wegen psychischer
Beihilfe belangt zu werden.
Pohlmeier
beschreibt ausgiebig die im Januar 2017 unternommenen Anstrengungen, um
Bilel ben Ammar abzuschieben. Es hätte an belastbaren Anschuldigungen
gefehlt, um die Haft fortzusetzen, und man wäre vor die Wahl gestellt
gewesen, entweder den mutmaßlichen Unterstützer freizulassen oder ihn
abzuschieben. Da man damals davon ausgegangen wäre, ben Ammar sei
ähnlich unberechenbar wie der Attentäter vom Breitscheidplatz, hätte man
die Abschiebung mit allen Mitteln forciert.
Aus
Kreisen der Fraktion Bündnis90/Die Grünen äußert sich ein Mitarbeiter
skeptisch zu den Ausführungen von Zeugin Pohlmeier. In vorangegangenen
Sitzungen vertrat vor allem Konstantin von Notz die Auffassung, dass es
im Fall ben Ammars belastbare Sachverhalte für eine mehrere Monate
andauernde Inhaftierung gegeben hätte, von denen die
Generalbundesanwaltschaft und die Ermittlungsbehörden aber keinen
Gebrauch machten.
Fallensteller
Es
sind insgesamt drei Stellen in den Aussagen des Tages, die sich – würde
man selbige frei kommunizieren – dazu eignen, den Pressevertretern
vorzuwerfen, ihre Berichterstattung sei eine Gefahr für das Staatswohl
der Bundesrepublik: 1. Zeuge S. nennt den Klarnamen seiner Vertreterin.
2. Zeugin Pohlmeier offenbart ein relevantes Detail. 3. Eine
Nachlässigkeit bei den Schwärzungen. Alles Potenziale, um den Ausschuss
generell als Gefährdung der Ermittlerinteressen und des Staatswohls zu
brandmarken.
Nachlässigkeiten, die der
Vertreter des Innenministeriums, Dr. Vogel, jedoch geschehen lässt.
Dabei war er es, der zuletzt vor allem die
Online-Presseberichterstattung als Gefährdung einstufte. Einzeltat vs.
geplante Anschlagsserie In der öffentlichen Sitzung blieben die
Fortschritte bei der Aufklärung übersichtlich. Innenministerium und BKA
setzen derzeit alles daran, ihre Darstellung der Abläufe zu zementieren.
Derweil
befassen sich Obleute und Presse mit den wachsenden Anzeichen, dass das
Attentat vom Breitscheidplatz ursprünglich als Teil einer Serie
zeitgleicher Attentate in Frankreich und Belgien geplant gewesen sein
könnte. Es bleibt zu hoffen, dass die Vernehmung des BND-Zeugen in
nicht-öffentlicher Sitzung an diesem Tag mehr zu Tage förderte, als es
die gut vorbereitete BKA-Vorstellung tat.
Die Bundesregierung agitiert am Ausschuss und offenbart ihr eigenes staatswohlgefährdendes Verhalten – von Aufklärung ist man aber weit entfernt.
In einem zweiseitigen Schreiben kündigt der Vertreter des
Bundesministeriums des Innern Ministerialreat Dr. Michael Vogel an,
Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes BKA künftig nicht mehr unter
Klarnamen vor dem Ausschuss aussagen zu lassen. Vogel offenbart aber
auch seine Sicht auf die Medien, die den Ausschuss begleiten.
Nach 14 Monaten Ausschussarbeit fällt nun auf, dass es das Staatswohl
gefährden könnte, wenn in öffentlichen Sitzungen die Klarnamen der
Mitarbeiter verwendet werden. Laut Vogel könne man die Mitarbeiter aus
sicherheitsempfindlichen Bereichen nicht mehr schützen, wenn ihre Namen
über die Presse in die Öffentlichkeit gelangen würden. Auch die
bildliche Darstellung in Form von Zeichnungen wird problematisiert.
Vogel beklagt, dass insbesondere die Veröffentlichung in Social Media die Mitarbeiter gefährden würde, da man es dort mit einer „nicht kontrollierbaren Öffentlichkeit“ zu tun habe. Aufmerksamkeit, die das BKA nicht will.
Vogel ist damit ganz auf der Linie des Ausschussvorsitzenden Armin
Schuster (CDU/CSU). Im Blick auf dessen Twitter- und
Facebook-Aktivitäten fällt auf, dass dort seine Arbeit als
Ausschussvorsitzender quasi nicht stattfindet. Auch der Blick in den
sitzungswöchentlich erscheinenden Newsletter zeigt, dass Schuster über
den Ausschuss nicht reden möchte. Seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
wird dieses Verhalten unterstützt. Pressemeldungen oder Einladungen zu
Hintergrundgesprächen finden nicht statt. Ein Musterbeispiel, wie ein
unliebsames Thema kleingehalten werden kann.
Autoritäres Wunschdenken
Öffentlichkeit muss nach der Auffassung von Dr. Vogel kontrollierbar
sein, wie das Schreiben zeigt. Gemeint ist damit offenbar die
Saalöffentlichkeit, die auf der Tribüne oberhalb der Obleute und
Regierungsvertreter dem Sitzungsgeschehen beiwohnen kann. Dass
zahlreiche Opfer und Hinterbliebene den sitzungswöchentlichen Weg zu
unkalkulierbar langwierigen Sitzungen nicht schaffen, ist dabei
eingepreist.
Vogel leitet aus den Aktivitäten der Medien am
öffentlichen Ausschussgeschehen nun im Nachhinein ein
staatswohlgefährdendes Verhalten ab, statt das generelle Versäumnis des
BKA und des Innenministeriums als ursächlich dafür zu benennen. Entlang
des Sitzungsgeschehens ist das Innenministerium allerdings mit keinen
unzumutbaren Herausforderungen konfrontiert. Die Begleitung der
öffentlichen Sitzungen erfolgt via Social Media, wie schon in
Untersuchungsausschüssen zum NSU oder zur NSA-Affäre, in denen ebenfalls
Beamte des BKA mit sicherheitsrelevanten Aufgaben aussagten.
Das Verhalten ist für die Bundesregierung nicht ungewöhnlich, die ihre Presseberichterstattung an immer mehr Stellen am liebsten selbst übernimmt.
Opfer und Hinterbliebene wurden nun durch das
Innenministerium zu einem für den 23. Mai geplanten Zusammentreffen mit
Bundesinnenminister Seehofer eingeladen. Eine geschlossene Gesellschaft
ist geplant. Medien sind – auch als stille Beobachter – nicht erwünscht.
Strikte
Vorgaben für die Berichterstattung rund um und für Fotos von der
Kanzlerin, Autorisierungsforderungen an Redaktionen, bevor Interviews
veröffentlicht werden dürfen, und Aktivitäten auf Youtube, mit denen das
historisch gewachsene Verbot, einen eigenen Regierungs-TV-Sender zu
betreiben, unterlaufen wird – die Vorstellungen, welches Bild vom
Handeln der Regierung in die Öffentlichkeit soll, passen immer öfter
nicht zur kritischen Berichterstattung der Pressevertreter.
Auch das Pressereferat des Bundestages zieht mit. Seit September 2018
wird der Fachpresseausweis durch den Bundestag nicht mehr anerkannt.
Eine Presseakkreditierung, die Journalist_innen einen kurzfristigen
Besuch in Abgeordnetenbüros oder in öffentlichen Sitzungen des
Parlaments ermöglicht, ist damit für immer weniger Journalist_innen
erreichbar.
Zeugen ohne Jagdinstinkt
Das Sitzungsgeschehen verlief unspektakulär und langwierig. Der
Kriminalhauptkommissar A.S., der im Laufe der Jahre 2015 und 2016 in
mehreren Ermittlungskontexten im Bereich des Dschihadismus tätig war,
konnte wenig am bisherigen Gesamtbild ändern. „Letzenendes ist es weder meine Gehaltsstufe noch meine Aufgabe, solche Schlüsse zu ziehen“, gibt A.S. zu Protokoll, als er nach Verbesserungsbedarf in seinem Arbeitsumfeld gefragt wird.
Für
den 36-Jährigen gibt es keine Gründe, an der Einzeltäterthese zu
zweifeln, und auch die zahlreichen Anzeichen, für Freunde und
Unterstützer des Attentäters lassen A.S. nicht davon abrücken, dass ein
Einzeltäter und nicht etwa ein Netzwerk aus Dschihadisten agierte. A.S. geht soweit, die Einzeltäterthese als Fakt zu präsentieren, und wird
von Mahmut Özdemir (SPD) ermahnt, keine Fakten zu kommunizieren, wo ein
„Ich weiß es nicht“ angesichts der zahlreichen Zweifel und Hinweise
angebracht ist.
Das BKA trennt strikt zwischen der
Tat, die der Attentäter als Einzeltäter durchgeführt hat, und dem
Vorfeld der Tat, als der spätere Attentäter zahlreiche Kontakte hatte,
zu denen aber nicht jede Kommunikation zu belegen ist. So verschwand der
spätere Attentäter für gut eine Stunde in einer Moabiter Moschee, die
durch das BKA nicht durchdrungen werden konnte. Möglich ist, dass der
spätere Attentäter dort die Waffe erhielt, mit der kurz darauf den
LKW-Fahrer am Friedrich-Krause-Ufer erschoss.
Angesichts der
vielen Ermittlungslücken, die insbesondere auf der Flucht darauf
hindeuteten, dass der Attentäter Hilfe gehabt haben könnte, wäre eine
seriöse Aussage zur Einzeltäterthese derzeit, dass man diese These nicht
lückenlos belegen kann und dass die hohe Anzahl von Kontakten es
wahrscheinlich macht, dass die Anschlagsplanung bekannt war. Weitere
Spuren führen nach Frankreich, und die Obleute sehen Anzeichen für eine
damals vorgesehene parallel verlaufende Attentatsserie. Doch auch hier
fehlt es dem BKA am Willen, weitere Nachforschungen in der
Öffentlichkeit einzuräumen.
Für
den Wunschzeugen der Opposition – Herrn C – der als V-Personenführer
relevante Aussagen zum Umgang mit Menschen aus dem direkten Umfeld des
späteren Attentäters machen kann, bleibt nach dem langen Sitzungstag
noch ein knapp bemessenes Zeitfenster von zwei Stunden.
Natürlich nur in nicht-öffentlicher Sitzung. Die zuvor vorgelegten
Unterlagen lassen durch die teils seitenlangen Schwärzungen allerdings
auch wenig Raum für die Entwicklung einer Fragestrategie. Mitarbeiter
und Obleute twitterten in den letzten Tagen immer wieder Bilder dieser
Schwärzungsexzesse. Die parlamentarische Aufklärung und Kontrolle ist
von der Bundesregierung weiterhin nicht gewollt.
Hinweise werden ausgewertet und als relevant erachtet, auf dem Weg durch die Hierarchie aber verworfen.
Kriminalhauptkommissar Alexander Stephan wird als erster von vier Zeugen an diesem Donnerstag vor dem Untersuchungsausschuss zum Attentat vom Breitscheidplatz vernommen. Mit insgesamt dreieinhalb Stunden wird es die längste Vernehmung des Sitzungstages.
Zeuge Stephan berichtet aus seiner Arbeit am
Gefahrenabwehrvorgang Lacrima und dem daraus hervorgegangenen
Ermittlungsverfahren (EV) Eisbär. Bis zu seiner Abordnung ins Auswärtige
Amt im März 2016 war Stephan vor allem mit Bilel ben Ammar befasst.
Im
Zuge dieser Ermittlungen kam dann auch der spätere Attentäter auf das
Radar des Bundeskriminalamtes (BKA). Stephan bestätigt mit seinen
Ausführungen die Darstellungen der vergangenen Sitzungen. Seine Aussagen
zum Auftauchen und zur Identifikation des späteren Attentäters im EV
Eisbär entsprechen denen der Zeugen van Elkan und Dr. Glorius.
Sein Hauptaugenmerk galt in diesem Verfahren dem Nachrichtenmittler
Bilel ben Ammar, der als Kontakt zu Denis Cuspert, aber auch zur
Reisegruppe um Sabou Saidani für die Ermittler interessant war.
Seltsame Abläufe im GTAZ
Die Obleute versuchen an diesem Tag wieder einmal mehr Klarheit über
die Abläufe im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ zu bekommen, in dem
eine länderübergreifende Koordination stattfinden soll. Aus den
Fragestellungen, aber auch den Beschreibungen des Zeugen Stephan ergibt
sich jedoch ein Bild, in dem es weniger um effektive Koordination geht
als vielmehr darum, um Zuständigkeiten zu schachern und Verantwortung zu
vermeiden.
Auffällig: Es gibt keine erkennbare Hierarchie im
GTAZ. Eine eindeutige Sitzungsleitung fehlt offenbar ebenso wie eine
konsequente Dokumentation getroffener Maßnahmen und deren Ergebnisse.
Stephan beschreibt auf die Fragen der Obleute die Entwicklungen im
Februar 2016. Damals bat das Landeskriminalamt NRW in den Sitzungen des
GTAZ darum, den Fall des späteren Attentäters abgeben zu dürfen. Dieser
hatte sich zu einem hochmobilen Gefährder entwickelt, der zwischen
mehreren Bundesländern hin und her reiste. Das BKA lehnte die Übernahme
des Falles jedoch ab und beließ die Koordination den
Landeskriminalämtern NRW und Berlin.
Die Obleute können die
Diskrepanz nicht auflösen, das Zeuge Stephan einerseits beschreibt, dass
die Protokolle des GTAZ von allen beteiligten Behörden gegengelesen und
auf Anfrage auch ergänzt und korrigiert würden, andererseits aber kein
Hinweis auf den NRW-Antrag zu finden ist, den Fall des späteren
Attentäters an das BKA abzugeben. E-Mails aus dem LKA NRW enthalten
Hinweise auf den Antrag, der aber in den Protokollen nicht auftaucht.
Mahmud Özdemir (SPD) fragt, warum das BKA nicht vom
Selbsteintrittsrecht Gebrauch machte, um den Fall an sich zu ziehen.
Stephan hat keine Erklärung. Auch zu den Fragen von Martina Renner (Die
Linke) und Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) zu den Abläufen rund um
das Behördenzeugnis des Verfassungsschutzes kann Stephan wenig
beitragen.
Ziel des Behördenzeugnisses ist in erster Linie
Quellenschutz. Behörden verschleiern dadurch die Beteiligung und
Identifikation einzelner Vertrauenspersonen und schützen sie dadurch
mitunter auch vor Strafverfolgung durch andere Behörden, weil den
Ermittlungsinteressen Vorrang vor der Strafverfolgung eingeräumt wird.
Stephan kann nicht auflösen, welche Informationen durch das
Behördenzeugnis legendiert werden sollten, und beschreibt, dass
eigentlich alle Punkte, die das Behördenzeugnis damals enthalten habe,
auch Bestandteil der Sitzungen des operativen Informationsaustausches
waren.
Phantomvideo
Kurz nach dem
Anschlag am Breitscheidplatz wechselte Stephan zur besonderen
Aufbauorganisation BAO City, die einberufen wurde, um Hinweise zum
Attentäter zu sammeln und die Tat zu untersuchen.
Der
Ausschussvorsitzende Armin Schuster fragt nach dem Video, das laut den
unzureichend belegten Darstellungen der Focus-Online-Redaktion Bilel ben
Ammar zeigen soll, der dem Attentäter zur Flucht verhilft, indem er
einen Menschen am Breitscheidplatz mit einem Kantholz an den Kopf
schlägt und schwer verletzt. Stephan sagt aus, dass es für den Bereich
der Hinweisbearbeitung, in dem er eingesetzt war, keine solche
Information und kein solches Video gegeben habe.
Stephan
wird auch mit Ermittlungshinweisen konfrontiert, die das BKA nicht
weiter verfolgt hat. Dazu zählen Fotos von Weihnachtsmärkten, die
Personen aus dem Umfeld des Attentäters gemacht hatten, sowie der Tweet
von Pegida-Initiator Lutz Bachmann, der schon kurz nach der Tat von
einem tunesischen Moslem als Täter sprach. Stephan kann auf die Fragen
von Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen), warum es nicht einmal
interne Ermittlungen dazu gab, nichts beitragen.
Blinde Flecken
Im weiteren Sitzungsverlauf offenbaren die Zeuginnen Leonie Simonis und Katharina Mühlfeld, die in der Hinweisbearbeitung und Auswertung eingesetzt waren, einen kriminalistischen Spürsinn, den die Obleute bei den zuvor gehörten BKA-Beamten Dr. Glorius und Stephan vermissten. Simonis teilt die Ansicht, dass es sich bei den Bildern auf dem Mobiltelefon von Bilel ben Ammar um Fotos handelte, die für die Tatvorbereitung von Belang waren. „Das waren keine touristischen Fotos“, äußert Simonis und beschreibt, dass die Fotos die spätere Einfahrtschneise, aber auch Poller und Bodenbeschaffenheit am Breitscheidplatz zeigen.
Nach den Schilderungen der jungen BKA-Beamtinnen waren zumindest auf diesen Arbeitsebenen ein Jagdtrieb und Ermittlungswillen erkennbar, die sich aber in der weiteren Hinweisbearbeitung bisher nicht wiederfinden.
Auch Zeugin S. D. vom LKA Berlin kann ihre Arbeit in ein positives Licht rücken. Sie schildert die komplizierten Zusammenhänge, teils auch in nicht-öffentlicher Sitzung, für die Referenten schlüssig, kann aber auch zur Frage nach der Beschlagnahmung eines Laptops bei einer V-Person des Verfassungsschutzes nichts beitragen. Die Umstände, die dazu führten, dass ein vom LKA Berlin rechtmäßig beschlagnahmter Laptop nach einem Anruf zunächst wieder in die Hände des Beschuldigten zurückging, konnten nicht näher erhellt werden.
Das Publikum
Teil des
Sitzungsgeschehens ist auch das Publikum auf der Tribüne oberhalb des
Saales 4.900 im Paul-Löbe-Haus. Die Mischung aus einzelnen Opfern und
Hinterbliebenen, Bundestagsmitarbeitenden und Journalist_innen pendelt
zu Sitzungsbeginn um die Zahl von etwa 20 bis 30 Personen. Je länger der
Sitzungstag dauert, desto deutlicher nimmt die Zahl ab.
Auffällig sind im Publikum immer wieder Personen, die in den Pausen
aufmerksam den Gesprächen der Journalist_innen folgen. Manche bestätigen
mitunter Detailinformationen sachkundig, sind jedoch zu keinerlei
weiterem Gespräch bereit. Auf die freundliche Nachfrage eines Kollegen
nach ihrem Bezug zum Ausschuss reagiert eine junge Frau am Rande dieser
Sitzung nahezu verschreckt und schweigt dann.
In einer anderen
Sitzung mischte sich eine Gruppe von vier Bundespolizisten mit
vorgeblich rein privatem Interesse in den Nahbereich der
Journalist_innen auf der Tribüne und verfolgte via Social Media das
Twitter-Geschehen am Hashtag. Per Direktnachricht freundlich
angesprochen, reagierte der erkennbar als Anführer der Vierergruppe
aufgetretene Polizist mit der spontanen Löschung seines
Twitter-Accounts.
Öffentlichkeitsgrundsatz
Publikumskontakt gehört zum journalistischen Handwerk dazu. Angesichts
der aktuellen Berichterstattung zu rechtsradikalen und medienfeindlichen
Netzwerken innerhalb der Strukturen der Sicherheitsbehörden sind
anonyme Onlinekontakte allerdings ebenso unangenehm wie rein privat
auftretende Polizisten, die sich auf der Tribüne in den unmittelbaren
Nahbereich von berichtenden Journalist_innen begeben.
Das
Interesse am Thema ist verständlicherweise besonders in Kreisen der
Sicherheitsbehörden groß. Daher sind – immer vorausgesetzt, die
Twitter-Profile und Internetinformationen entsprechen den realen
Personen – Leser wie aus dem Bundesministerium für Justiz und
Verbraucherschutz sowie aus dem Bereich „Ermittlung, Fahndung,
Gefahrenabwehr“ des BKA an meinem Twitter-Profil zu finden. Das beste
Indiz, dass der Ausschuss nicht nur im Sitzungssaal des Bundestags
wirkt, sondern auch darüber hinaus.
Das Bundeskriminalamt gibt sich mitwirkungsbereit und aufgeschlossen, offenbart aber blinde Flecken. Wie viel Arglosigkeit ist noch glaubhaft?
Mit einer aufgeschlossenen Mitarbeiterin punktet das Bundeskriminalamt BKA an diesem Sitzungstag zunächst beim Publikum und den Obleuten im Untersuchungsausschuss zum Attentat vom Breitscheidplatz. Die Kriminalhauptkommissarin Karin van Elkan überzeugt. Dermaßen aufgeschlossenes Auftreten haben schon einige Zeugen anderer Behörden vermissen lassen. Zeugin van Elkan verfügt nicht nur über Detailkenntnisse, sondern referiert ohne Notizen und völlig frei zu den zeitlichen Abläufen.
Ihr Gedächtnis funktioniert assoziativ und die Zusammenhänge, die sie zwischen Ermittlungsgruppen, Personen und Ereignissen schildert, sind nahezu lückenlos und wirken nicht auswendig gelernt. Sie arbeitet mit, statt zu blockieren.
Gefahrenabwehrvorgang Lacrima
Im Visier der BKA-Ermittler stand zunächst der nach Syrien ausgereiste Denis Cuspert, der über soziale Medien für den Dschihad warb. In dessen Umfeld tauchte dann der Tunesier Sabou Saidani auf, dessen Verbindung zu Bilel ben Ammar und dem späteren Attentäter dann später im Ermittlungsverfahren Eisbär durch das BKA überwacht wurde. Ein abgehörtes Telefongespräch am 24. Dezember 2015 förderte eine Aliasidentität des späteren Attentäters zu Tage. Ab dem 11. Januar 2016 war Anis Amri im Ermittlungsverfahren Eisbär eindeutig zugeordnet, galt aber lediglich als Kontaktperson von Bilel Ben Ammar. Doch so viele Namen, Orte und Zusammenhänge die Zeugin van Elkan an diesem Sitzungstag auch liefert: neue Erkenntnisse sind nicht dabei.
Offen bleiben die Fragen von Benjamin Strasser (FDP) nach den Details der Kooperation mit dem US-Inlandsdienste FBI – einer Hybridorganisation, die sowohl die Aufgabenbereiche der Verfassungsschutz-, als auch der Kriminalämter in sich vereint. Auch auf die Fragen von Martina Renner (Die Linke), wie mit den Metadaten aus dem Androidtelefon des späteren Attentäters umgegangen wurde, kann Zeugin van Elkan nichts beisteuern. Metadaten und Social-Media-Vernetzungen, die möglicherweise die Grundlage für den im Januar 2017 durchgeführten US-Luftangriff in Libyen waren, der als Vergeltungsschlag für das Attentat vom Breitscheidplatz gilt.
Publikum unter Beobachtung
Auf
der Regierungsbank zeigt sich das BKA maximalst kooperationsbereit.
Auffällig ist an diesem Tag aber auch das Social-Media-Monitoring, das
die Regierungsbank in Echtzeit betreibt. Unklar bleibt, mit welchen
Accounts die Beobachter agieren. Während Presse, Obleute und Mitarbeiter
des Untersuchungsausschusses immer wieder auch anonymen Attacken
ausgesetzt sind, bei denen an Motivation und Reputation gekratzt, sowie
der Sachverstand in Frage gestellt wird, bleibt die Regierungsbank
gleichermaßen anonym. Was bleibt, ist das ungute Gefühl, das notfalls
interveniert wird, falls sich eine Zeugenaussage zu aufklärerisch
entwickelt und die Öffentlichkeit zu viel erfährt.
Dünne Quellenlage
Kriminaldirektor
Dr. Dominik Glorius pflegt den offenen Stil, der den Ausschusstag trotz
aller zeitlichen Verzögerungen positiv verlaufen lässt. Glorius kann
vor allem zum Geschehen nach der Tat als Leiter der besonderen
Aufbauorganisation BAO City aussagen. Ihn ärgert die Berichterstattung
des Focus-Magazins, das im Februar Behauptungen eines angeblichen
Insiders veröffentlichte, nach denen es ein weiteres Video geben würde,
das Bilel ben Ammar am Breitscheidplatz zeigt. „Wir wären dankbar
gewesen für ein Video, das zeigt, wie ben Ammar eine schwere
Körperverletzung begeht, dann hätten wir einen Straftatverdacht gehabt ihn
festhalten können.“ Weder dem Ausschuss, noch den verantwortlichen
Redakteuren Alexander Rackow und Josef Hufelschulte liegt das Video vor.
Die dünne Quellenlage macht die Focus-Berichterstattung auch mehrere
Wochen nach der Veröffentlichung nicht glaubwürdiger.
In der Kritik
Die Obleute konfrontieren den Zeugen Glorius schnell mit den Dingen, die die BAO City nicht ausermittelt hat. Nur zwei der drei DNA-Spuren an der Pistole des Attentäters sind eindeutig zugeordnet. Die Pistole des Attentäters stammt aus der selben Produktionscharge, wie die Tatwaffe des rechtsradikalen NSU-Trios. Martina Renner (Die Linke) macht deutlich, dass die Identitäre Bewegung in Frankreich bereits Waffen an Dschihadisten verkauft hat und auch deutsche Rechtsextreme aus dem bosnischen Kriegsgebiet Waffen nach Deutschland geschmuggelt haben. Ermittlungsansätze, die beim BKA offenbar nur nachrangig behandelt werden.
Das BKA hält weiter an der Einzeltäterthese
fest. Glorius kann nicht auflösen, warum er davon ausgeht, der
Attentäter hätte keine Absicht gehabt, das Attentat zu überleben.
Martina Renner macht klar, dass der Attentäter sich entweder mit der
Pistole hätte umbringen können oder den Tod in einer Konfrontation mit
der Polizei hätte suchen können. Für Irene Mihalic und Konstantin von
Notz (beide B90/Die Grünen) ist vor allem die erfolgreiche Flucht ein
Indiz dafür, dass es dem Attentäter nicht um ein Selbstmordattentat
ging.
Der Fragenkatalog zur Fluchtroute ist lang. Dem BKA
gelang die Rekonstruktion der dreitägigen Flucht des Attentäters von
Berlin über die Niederlande, Belgien und Frankreich nach Italien.
Insgesamt 33 Stunden zwischen Berlin und Kleve, sowie 16,5 Stunden
zwischen Brüssel und Lyon können bisher heute nicht nachvollzogen
werden. Fast zwei Tage in einem Zeitraum, in dem auch der
Auffenthaltsort von Bilel ben Ammar nicht ermittelt werden konnte. Für
die Obleute liegt nahe, ben Ammar könnte die Flucht des Attentäters
maßgeblich unterstützt haben.
Seltsam unambitioniert
Zeuge Glorius gerät zusehends unter Druck. Auch aus Kreisen der CDU/CSU fragen Klaus-Dieter Gröhler und Detlef Seif mit Nachdruck zu den Pannen und Zeitverzögerungen bei der Spurensicherung nach dem Anschlag, die dafür sorgten, dass die Fahndung nach dem Attentäter erst mit wesentlicher Verspätung eingeleitet wurde.
Konstantin von Notz fragt zum LKW und den Ereignissen, bevor der Fahrer Łukasz U. durch den Attentäter erschossen wurde. Łukasz U. hatte eine Software auf seinem Smartphone installiert, die seine Telefongespräche am Tag vor dem Attentat aufgezeichnet hatte. Daraus geht hervor, dass es am Vorabend, noch vor Erreichen des Ladeortes in Berlin, Eindringversuche in die Fahrerkabine des LKW gab, die Łukasz U. abwehren konnte. Glorius ist dazu nichts bekannt und er sieht auch keine weiteren Ermittlungsansätze.
Die wohl größte Ungereimtheit, die die Obleute in den Abendstunden hinterfragen, ist die Vernehmung von Bilel ben Ammar. Das BKA führte insgesamt drei Vernehmungen durch, die zusammengenommen nur ca. dreieinhalb Stunden dauerten. In der ersten Vernehmung machte Bilel ben Ammar Angaben, die die Ermittler zunächst als glaubhaft einordneten. Seine Nervosität erklärten sie arglos mit der ungewohnten Situation einer Vernehmung.
Als ben Ammar in der zweiten Vernehmung dann eingesteht, in der ersten Vernehmung gelogen zu haben und eine neue Geschichte erzählt, gelangen die Ermittler zu dem Schluss, ben Ammar sei als Zeuge unbrauchbar. Die Obleute im Ausschuss können diese Begründung nicht nachvollziehen. Email-Verkehr, der den Obleuten vorliegt legt nahe, dass zum Zeitpunkt der Vernehmung hauptsächlich die schnelle Abschiebung ben Ammars im Vordergrund stand und nicht die Frage nach einer Tatbeteiligung.
Der Ausschussvorsitzende Armin Schuster fragt nach dem Grund für das unerklärliche Verhalten des BKA. Schuster räumt ein, dass auch er zu den Politikern gehörte, die nach dem Attentat dafür plädiert haben, Deutschland solle mögliche Gefährder schnell abschieben. Tatverdächtige schloss diese Forderung nach Ansicht von Schuster jedoch nicht ein.
Abschiebung vor Aufklärung
Die
Abschiebung von ben Ammar wurde nachweislich mit Hochdruck betrieben.
Glorius streitet ab, dass es Druck aus Regierungskreisen gegeben habe.
Doch noch bevor wesentliche Beweismittel, wie das Smartphone ausgewertet
sind, wurde ben Ammar Anfang Februar 2017 abgeschoben.
Konstantin von Notz betont, dass man den Indizien für die Tatbeteiligung
ohne Eile hätte nachgehen können. Ben Ammar wurden Straftaten zur Last
gelegt, nach denen er zu mehreren Monaten Gefängnis hätte verurteilt
werden können. Zeit, in der das BKA sorgfältig allen Indizien hätte
nachgehen können. Glorius gibt sich weiterhin arglos. Die Fotos von zwei
Sperrpollern am Breitscheidplatz vor der Tat hätten für die Amokfahrt
des Attentäters keine weitere Bedeutung gehabt.
Unverständnis
auch für das Handeln des BKA nach der Abschiebung. Eine Überwachung habe
es nicht gegeben. Lediglich der Verbindungsbeamte habe mit den
örtlichen Behörden gesprochen, sagt Glorius.
Nicht der letzte BKA-Zeuge
In
den kommenden Sitzungen wird der Ausschuss weitere Mitarbeiter aus dem
BKA befragen und nach einer Erklärung dafür suchen, warum die
Abschiebung priorisiert und die Auswertung der Beweismittel hinten
angestellt wurden. Glorius verneinte politische Einflussnahme und Druck.
Ob der abgeschobene ben Ammar weiterhin Kontakte zur dschihadistischen
Szene in Deutschland hat, lässt sich nicht feststellen. Sein
Aufenthaltsort nach der Abschiebung ist nicht bekannt.
Ein Tagesprogramm mit vier Zeugen war geplant. Namentliche Abstimmungen schrumpfen die Zeugenliste auf zwei Zeugen zusammen.
Obwohl der Sitzungsbeginn vorverlegt worden
war, konnte das angestrebte Tagesprogramm im
Breitscheidplatz-Untersuchungsausschuss nicht erfolgreich umgesetzt
werden. Die vierstündige Unterbrechung, bedingt durch namentliche
Abstimmungen, reduzierte dann auch die Öffentlichkeit auf der
Besuchertribüne merklich.
Zu Sitzungsbeginn sind immerhin gut
30 Menschen auf der Tribüne, darunter auch Medien des tagesaktuellen
ARD-Hörfunks und der Deutschen Welle. Als der Ausschuss am Abend
fortsetzt, sind unter den verbliebenen zehn Besucher_innen nur noch
freie Journalist_innen, eine dpa-Reporterin, Vertreter von Print- und
Onlinemedien und ein Überlebender des Anschlags.
Aus Marokko angereist
Offen und auskunftsfreudig tritt Robin O. Debie vor dem Ausschuss auf. Der Verbindungsbeamte des Bundeskriminalamtes BKA ist in Rabat eingesetzt und seit mehreren Jahren für Marokko und Mauretanien verantwortlich. Zu seinen Aufgaben gehört der vertrauensvolle Austausch mit den lokalen Polizeibehörden und Inlandsgeheimdiensten. Debie macht präzise Angaben zu seinem Job. Etwa 65 Prozent seiner Arbeit entfielen auf islamistischen Terrorismus und rund 20 Prozent auf Rauschgiftkriminalität. Hinzu kommen Zielfahndungen und Ausbildungsmaßnahmen, beschreibt der Beamte.
Debie genießt nach vier Jahren im
Land das Vertrauen der marokkanischen Dienste. Das Land beschreibt er
als relevanten Zulieferer von Sicherheitsinformationen. Im Gespräch mit
Martina Renner (Linke) wird deutlich, dass es in den vergangenen Jahren
ernstzunehmende Hinweise aus Marokko gab, die konkrete Maßnahmen in
Deutschland nach sich zogen. Debie bejaht, als Martina Renner von der
Räumung von Bahnhöfen oder anderen Verkehrspunkten spricht.
Hochwertige Hinweise
Debie
führte mit dem marokkanischen Inlandsgeheimdienst DGST ein persönliches
Gespräch zum späteren Attentäter vom Breitscheidplatz. Insgesamt vier
Vorgänge wurden zwischen Deutschland und Marokko bewegt. Laut Debie kein
08/15-Fall, aber auch noch nichts, was über den Standardaustausch zu
verdächtigen Personen hinausgehe. Der DGST hätte Facebook ausgewertet
und den deutschen Inlandsbehörden nicht nur Telefonnummern mitgeteilt,
sondern auch den bevorzugten Aufenthaltsort des späteren Attentäters in
Dortmund. Auf Debie wirkt das nicht ungewöhnlich, denn er weiß aus
seiner ehemaligen Tätigkeit in der Spionageabwehr um die
Agententätigkeiten ausländischer Dienste in Deutschland.
Wenig
interessiert an diesen Erkenntnissen gab sich das Bundesamt für
Verfassungsschutz. Martina Renner macht deutlich, dass sich
vorangegangene Zeugen despektierlich über den marokkanischen Dienst
geäußert und von Wichtigtuern gesprochen hatten, die sich nur anbiedern
wollen würden. Debie teilt diese Sicht nicht. Über seinen Tisch liefen
auch Informationen zu Bilel ben Ammar sowie libysche Telefonnummern, die
er im Januar 2017 nach Deutschland weiterleitete.
Eine direkte
Verbindung zu den Luftschlägen, die das US-Militär in der Nacht vom 18.
zum 19. Januar 2017 in Libyen durchführte, bei denen ein angeblicher
Kontaktmann des Breischeidplatz-Attentäters getötet wurde, stellt Debie
in öffentlicher Sitzung nicht her. Konstantin von Notz arbeitet in
seinen Fragerunden heraus, dass Debie nicht durch das
Bundesinnenministerium befragt wurde. Ende Februar 2019 beteuerte Horst
Seehofer nach einer taskforce-artigen Fleißarbeit für sein Ministerium,
alle Informationen zu Bilel ben Ammar zusammengetragen zu haben. Mit
einem umfangreichen Schriftsatz wurde die Presse informiert. Der
Untersuchungsausschuss wäre verantwortlich für die Ermittlungsarbeit,
die das Innenministerium in jeder Hinsicht unterstützen würde. Warum er
im Zuge dieser Fleißarbeit nicht befragt worden war, kann Debie in der
Sitzung nicht erklären.
Werbeblock GTAZ
Unter der Führung von CDU/CSU und SPD erhalten die Obleute im Ausschuss am Abend dann eine umfassende Einweisung in das gemeinsame Terrorabwehrzentrum GTAZ. Zeuge Martin Kurzhals schildert wortreich die Zusammenarbeit im GTAZ. Der Beamte des höheren Dienstes arbeitet hier als Verbindungsbeamter des BKA. Er beschreibt seine Aufgaben, zu denen auch die Moderation der Sitzungen des operativen Informationsaustausches zählt.
Anders als seine Kollegin des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die an denselben Sitzungen teilnahm, verfügt Kurzhals über Erinnerungsvermögen. Zeugin Petra M. hatte Ende Januar 2019 vor dem Ausschuss nahezu keine Erinnerung an die Namen und Vorgänge, die Kurzhals nun präzise beschreibt. Insgesamt sechs Sitzungen mit Bezug zum späteren Attentäter hätte er in seiner Zeit im GTAZ moderiert. Die Zusammenarbeit mit den anderen Behörden beschreibt er als ergebnisorientiert.
Widersprüche
In
Erklärungsnot gerät Kurzhals, als es um das Behördenzeugnis geht, das
für den späteren Attentäter durch das Bundesamt für Verfassungsschutz
ausgestellt wurde. Kurzhals liefert keine schlüssige Erklärung dafür,
warum in einem „reinen Polizeifall“ plötzlich das Bundesamt für
Verfassungsschutz bereitwillig ein Behördenzeugnis formuliert. Mit einem Behördenzeugnis werden Quellen vor Strafverfolgung, aber auch vor dem Zugriff anderer Behörden geschützt.
Irene Mihalic (Grüne) ist irritiert: „Wenn
doch alle vertrauensvoll in der AG Operativer Informationsaustausch
zusammengearbeitet haben, warum dann ein Behördenzeugnis?“
Auch für Konstantin von Notz (Grüne) ist die Ausstellung des Behördenzeugnisses durch das Bundesamt für Verfassungsschutz im
Fall des späteren Attentäters nicht nachvollziehbar. „Der Präsident
schreibt von unbestätigten Hinweisen, wissend, wenn jetzt was passiert,
hängt er dafür aus dem Fenster“, schildert Notz und verlangt eine Erklärung, die Kurzhals nicht liefern kann. Der Ausschussvorsitzende Armin Schuster (CDU/CSU) versucht Kurzhals zu helfen und zieht gegenüber Konstantin von Notz die Rechtfertigungen heran, die der Verfassungsschutz dazu lieferte. Eine wirkliche Erklärung ist aber auch das nicht.
Personalrochade am späten Abend
Kurz vor Ende des öffentlichen Teils der Sitzung fordert der Obmann der FDP Benjamin Strasser eine Beratungssitzung ein. Erneut sei ein Vertreter der Bundesregierung, der an diesem Abend mit im Ausschusssaal sitzt, als möglicher Zeuge befangen und müsse deshalb den Saal verlassen, wie es aus SPD-Kreisen heißt. Offenbar war sein Name in den Unterlagen aufgetaucht, die Strasser vorliegen. Bereits im September 2018 war die Bundesregierung mit der Personalie Eva H. in gleicher Weise unangenehm aufgefallen.
Aus
Zeitgründen muss auf den BND-Zeugen R.W. an diesem Abend verzichtet
werden, der ohnehin nur nicht-öffentlich vor dem Ausschuss aussagen darf.
Die Zeugenaussage eines Krefelder Kriminalkommissars fördert einen künftigen Zeugen zu Tage. Beifang an einem ereignisarmen Tag.
Zeuge Wolfgang D. wäre die Idealbesetzung,
sollte die ARD irgendwann einmal einen Tatort in Krefeld drehen. Jargon,
Auftreten und nicht zuletzt die schwarze Lederjacke suggerieren einen
Ermittler, bei dem sich Kriminelle ordentlich Ärger einfangen können.
Im
Fall des späteren Attentäters begann Wolfgang D. zunächst eine
verdeckte Ermittlung und ging den Hinweisen des Heimbewohners Lokmann D.
nach. Unter einem Vorwand lud er ihn in die Ausländerbehörde ein. Die
Hinweise deuteten darauf hin, dass der spätere
Breitscheidplatz-Attentäter nicht nur als Sozialbetrüger unterwegs war,
sondern auch mit dem IS sympathisierte.
Doch
schon kurz nach dem Gespräch im Oktober 2015 meldete sich im November
2015 das LKA aus Nordrhein-Westfalen und pfiff Wolfgang D. zurück. Am
Telefon äußerte Herr Elka, er sei aus der Ermittlungskommission Ventum.
Man hätte die Zielperson, die Wolfgang D. untersuchte, ebenfalls im
Blick, und seine Ermittlungen würden die der EK Ventum gefährden. „In
jedem zweiten Tatort gibt es so einen Fall“, sagt der
Ausschussvorsitzende Armin Schuster (CDU) und hakt nach: „In jedem
zweiten Tatort macht der Kommissar dann aber weiter. Wie war das bei
ihnen?“
Doch schon kurz nach dem Gespräch im Oktober 2015 meldete sich im November 2015 das LKA aus Nordrhein-Westfalen und pfiff Wolfgang D. zurück. Am Telefon äußerte Herr Elka, er sei aus der Ermittlungskommission Ventum. Man hätte die Zielperson, die Wolfgang D. untersuchte, ebenfalls im Blick, und seine Ermittlungen würden die der EK Ventum gefährden. „In jedem zweiten Tatort gibt es so einen Fall“, sagt der Ausschussvorsitzende Armin Schuster (CDU) und hakt nach: „In jedem zweiten Tatort macht der Kommissar dann aber weiter. Wie war das bei ihnen?“
Standard-Drehbuch
Auch
Wolfgang D. ermittelte weiter. Nicht ganz so spektakulär, wie es die
Drehbuchautoren für einen Tatort ersinnen würden. Doch sein Bauchgefühl
sagte ihm, dass der Fall nochmal relevant werden würde. Eine Kopie der
dünnen Akte blieb auf seinem Tisch und wurde gut zehn Monate später im
August 2016 wieder zum Thema. Nach einer Razzia in einem Reisebüro in
Duisburg wurde der spätere Attentäter als einer der Schüler des
Hasspredigers Abu Walaa identifiziert. Wolfgang D. gab den Fall als
Prüffall Islamismus an den zuständigen Bearbeiter ab. Für das
Bauchgefühl des Ermittlers interessierte sich danach aber niemand mehr.
Weder Wolfgang D. noch sein Kollege, Kriminalhauptkommissar K., wurden
von der BAO City befragt, der Ermittlergruppe, die nach dem Anschlag im
Dezember 2016 die Hinweise zum Attentäter zurückverfolgen sollte.
Im Blick der Behörden
Die
Zahl der Behörden, unter deren Augen der spätere Attentäter
weitestgehend ungehindert agieren konnte, wächst von Sitzung zu Sitzung.
Bedauerlich nur, dass Zeugen mitunter nicht genau erläutern können, mit
welchen Behörden sie in Kontakt waren. So beschreibt der Asylbetreuer
Wilhelm Berg, fleißig weitergemeldet zu haben, was ihm ungewöhnlich
vorkam. Schließlich hätte es sich um eine Weisung seiner Vorgesetzten
gehandelt, die ihn schon im September 2015 auf eine Problematik mit dem
späteren Attentäter hingewiesen und ihn dazu angehalten hätten zu
beobachten, zu melden, aber nichts darüber hinaus zu unternehmen.
Im späteren Kontakt mit Ermittlern reichte dem Zeugen Berg die grobe Einordnung „Staatsschutz“. Er fragte nicht näher nach, ob es sich um Verfassungsschutz, Polizei oder eine andere Organisation handelte. Vorgestellt hatten sich die ermittelnden Herren schließlich bei seinem Vorgesetzten. Für Berg reichte das.
Auch Kriminalhauptkommissar K. äußert Verständnis für Geheimhaltung. Seiner Ansicht nach ist diese unerlässlich. Er erlebte im Fall des Attentäters, dass interne Dokumente, wie zum Beispiel Personagramme des späteren Attentäters, sehr schnell an die Presse gelangt waren. Eines dieser Personagramme wurde wenige Tage vor dem Anschlag mit dem Hinweis „nachrichtendienstliche Beobachtung“ ergänzt. Von wem diese Ergänzung vorgenommen wurde, weiß K. jedoch nicht. Es ist auch kurz vom Bundesnachrichtendienst die Rede, aber eher auf einer unpräzisen Ebene, weil ein Polizeikollege eine Andeutung gemacht hätte, dessen Einschätzung eigentlich immer gut sei.
Abschirmung
So langwierig und redundant die Befassung mit manchen Zeugen im Untersuchungsausschuss mitunter ist, so sehr zementieren Aussagen wie die der Mitbewohner, Betreuer und ermittelnden Polizeibeamten, dass die Gefährlichkeit des späteren Attentäters nicht zu übersehen war.
Kopfschütteln
und Unverständnis zeigen auch die Angehörigen der Opfer und die
Überlebenden des Anschlags angesichts der Ermittlungstaktik, die von
Landeskriminal- und Verfassungsschutzämtern an den Tag gelegt wurde:
Gewähren lassen. Geheim halten. Nicht einschreiten.
Selbstkritisch und schuldbewusst tritt der Leiter des LKA Berlin vor den Obleuten auf. Erklärungen für das Verhalten seiner Mitarbeiter hat er aber nicht.
Fragen über Fragen, Verwunderung und
Unverständnis – in fast 11 Stunden dieses Sitzungstages sammeln die
Obleute Indizien für die nicht enden wollende Liste des
Behördenversagens. Als ersten Zeugen des Tages vernehmen die Obleute
Lokmann D. aus der Geflüchtetenunterkunft in Emmerich. Er sagt aus, wie
er das Verhalten des späteren Attentäters im Oktober 2015 erlebte. Schon
in den ersten Kontakten wurde ihm klar, dass vom späteren Attentäter
eine Gefahr ausging, denn dessen Verhalten und Geschichten irritierten
sehr. Zudem passte die angeblich ägyptische Herkunft nicht zum Dialekt
des Tunesiers.
Zeuge D. beschreibt glaubhaft, wie seine Zweifel aufkamen. Als der spätere Attentäter dann Videos von IS-Kämpfern zeigte, nahm er schließlich Kontakt zu den Behörden auf. Seine erste Ansprechstelle war das Sozialamt. Später folgt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – eine Dienststelle, die mit dem BND kooperiert und in der in der Vergangenheit immer wieder auch Geflüchtete befragt wurden. Doch weder dort noch bei der Polizei reagierte man auf die Hinweise des Syrers.
„Hätten die Behörden meine Hinweise ernst genommen, könnten die unschuldigen Opfer vom Breitscheidplatz noch leben“, übersetzt der Dolmetscher. Als nach dem Anschlag die Unterkunft in Emmerich von der Polizei durchsucht wurde, interessierte sich zunächst wieder kein Beamter für Angaben von Zeuge D. Als den Bewohnern klar wurde, dass die Durchsuchung mit dem Terroranschlag in Berlin zu tun hatte, ging er erneut zur Polizei. „Sie konnten gar nicht mehr tun. Das, was sie getan haben, war sehr gut! “, sagt der Ausschussvorsitzende Armin Schuster und macht deutlich, dass die Behörden versagt haben.
Expresszeuge ohne Belang
Nur 14 Minuten verliert der Sitzungstag dann mit einem irrelevanten
Wunschzeugen der CDU/CSU, der dafür aus Kleve angereist ist und nichts
Erhellendes beitragen kann. In einem Massenverfahren hatte er etwa genau
so lang, wie heute seine Aussage dauert, mit einem letztlich nicht
eindeutig zu klärenden Handydiebstahl zu tun.
Dieter Hackfurth (Staatsanwaltschaft Kleve)
Regelmäßige Teilnehmer der Ausschusssitzungen wünschen sich so ein Massenverfahren auch für die Zeugen, die die Regierungsfraktionen als unerlässlich für die chronologische Aufarbeitung ansehen und unablässig vor den Ausschuss zitieren. Allen gemein: Ihre Aussagen wurden durch Sonderermittler und in Expertenanhörungen längst geprüft.
Unerklärliche Abläufe im LKA Berlin
Gegen 15 Uhr erscheint dann der Leiter des Berliner LKA Christian Steiof zur Aussage. Seine glaubwürdige Betroffenheit bringt Steiof im Eingangsstatement ebenso zum Ausdruck wie seinen Respekt vor den Hinterbliebenen und Opfern des Anschlags, die die Untersuchungsausschüsse im Abgeordnetenhaus und im Bundestag kritisch begleiten. An diesem Tag jedoch sind erneut keine Vertreter zugegen, und die namentliche Ansprache von Steiof erreicht die Adressaten nicht. Angesichts der schleppend fortschreitenden Aufklärung findet sich in den Gesprächen mit jenen immer häufiger Resignation und Zweifel daran, dass die Ermittlungen überhaupt etwas zu Tage führen sollen.
Steiof
wirkt deutlich betroffen. Die Fragen der Obleute versucht er präzise zu
beantworten, kann aber an vielen Stellen an diesem Nachmittag und auch
in den Abendstunden keine schlüssige Erklärung für das Verhalten seiner
Mitarbeiter finden. „Ich bin Disziplinarvorgesetzter von 3.500 Menschen –
da passieren jede Woche dolle Dinger“, entgegnet Steiof auf die Fragen
der Obleute. Die Task Force „Lupe“ hatte sich mit einem dieser Fälle
befasst, in dem die „Kollegen offenbar kalte Füße bekommen haben“.
Beamte hatten Einträge in der Datenbank POLIKS der Landespolizei
manipuliert, offenbar um eigene Fehlentscheidungen zu vertuschen. Steiof
selbst konnte in dem Fall nicht persönlich ermitteln, da die interne
Aufarbeitung aus ermittlungstaktischen Gründen an die Polizeipräsidentin
abgegeben werden musste.
Den
Ermittlern fiel bei ihrer Arbeit SMS-Kommunikation in die Hände. So
tauschte Michael Weinreich, der im NSU-Kontext dadurch auffiel, dass er
Hinweise einer V-Person nicht angemessen bearbeitete, mit seinem
Kollegen Herrn O. Nachrichten aus, in denen die Chiffre „88“ sowie
Warnungen vor Kanzlerin Merkel und dem „Gutmenschentum“ eine
rechtsradikale Weltsicht erkennen ließen.
„Observationskräfte
sind Goldstaub“, führt Steiof an. Für ihn scheint mit der verhängten
Disziplinarmaßnahme der Fall abgearbeitet. Verwunderlich angesichts der
immer wieder aufkommenden Bezüge zu rechtsradikalem Handeln im LKA, wie
die kürzlich öffentlich gewordene Drohbriefaffäre. Ein Polizist hatte auf Basis der polizeiinternen Datenbank Drohbriefe an Linke gesendet.
Christian Steiof (ehemaliger Leiter des LKA Berlin)
Steiof
wirkt seltsam unbeteiligt und mitunter unwillig, tiefer zu ermitteln.
So war auch der Tweet des Rechtspopulisten Lutz Bachmann, der sich schon
knapp zwei Stunden nach dem Anschlag auf einen tunesischen Moslem als
Attentäter berief und die Information angeblich aus Polizeikreisen haben
wollte, kein Anlass für Ermittlungen. Konstantin von Notz (Grüne) führt
aus, dass es nicht zusammenpasst, dass man beim LKA zwar beständig die
These vertrat, es hätte sich beim späteren Attentäter um einen
kleinkriminellen Drogendealer gehandelt, aber im Nachgang zum Anschlag
dessen Verbindungen ins Milieu nicht mehr überprüfte. Offensichtlich
wurde das Geld aus dem Drogenhandel zur Finanzierung des Terroranschlags
genutzt. Steiof nimmt die Ausführungen des Parlamentariers von Notz
interessiert zur Kenntnis.
Ohne Erklärung
In
der Sitzung wird Steiof über Stunden mit dem unerklärlichen Verhalten
seiner Abteilungen konfrontiert. Benjamin Strasser (FDP) zitiert
Auswerteberichte zum späteren Attentäter aus den Monaten Juni bis August
2016. Die Berichte dokumentieren ein Verhalten, das von den Ermittlern
im LKA konsequent in Richtung eines kleinkriminellen Drogendealers
interpretiert wurde. Dabei ignorierten sie offenbar die Kontakte zur
Dschihadistenszene.
Im
weiteren Sitzungsverlauf arbeitet Konstantin von Notz durch
Aktenvorhalte heraus, dass die Behörde im November 2016 die Möglichkeit
verstreichen ließ, den späteren Attentäter wegen einer Straftat „für
Minimum 3 Jahre einzuknasten“. Auch hier kann Steiof keine Erklärung
finden, warum keiner seiner Abteilungsleiter auf ihn zugekommen war, und
will Arbeitsüberlastung als mögliche Erklärung heranziehen.
„Vertrauenspersonen findet man nicht im Knabenchor“
Eine LKA-Beamtin, die kurze Zeit später zum Verfassungsschutz
wechselte, fiel 2016 durch fragwürdiges Handeln bei einer
Hausdurchsuchung auf. Bei der Durchsuchung in der Wohnung eines
Informanten des Verfassungsschutzes wurde zunächst ein Laptop
beschlagnahmt, aber auf Veranlassung der Beamtin dann wieder von der
Asservatenliste gestrichen. Die Obfrau der Linken Martina Renner
vermutet eine Intervention des Verfassungsschutzes, der immer häufiger
im Zusammenhang mit dem LKA zur Sprache kommt.
Insgesamt
acht LKA-Beamte wurden im Laufe des Jahres 2016 „raubbefördert“ und
wechselten zum Verfassungsschutz. Die mantraartig vorgetragene Äußerung
der Verfassungsschützer, es habe sich um einen „reinen Polizeifall“
gehandelt, erhält vor diesem Hintergrund eine zusätzliche Deutungsebene.
Steiof
aber schützt seine Mitarbeiter. Der Fall sei so komplex, dass er sich
als Disziplinarvorgesetzter nicht anmaßen wolle, einem Mitarbeiter
allein die Konsequenzen anzulasten. Doch seien personelle Konsequenzen
gewollt, dann würde er nötigenfalls auch selbst zurücktreten. Auch die
politischen Akteure nimmt Steiof in Schutz und stellt dar, dass die
Priorisierung des damaligen Innensenators Frank Henkel (CDU) normal
gewesen wäre und sich nicht negativ auf die Observationsergebnisse
ausgewirkt hätte. Henkel hatte im Sommer 2016 medienwirksam den Kampf
gegen die linke Szene rund um die Rigaer Straße betrieben.
Strukturen und Köpfe
Den
Rücktritt des LKA-Präsidenten als Konsequenz zu fordern, wird den sich
abzeichnenden Problemen nicht gerecht. In der Vernehmung wird die
Verstrickung mit dem Verfassungsschutz ebenso deutlich wie die Bezüge zu
ausländischen Nachrichtendiensten. Die Abschiebung des möglichen
Komplizen Ben Ammar, der nach neuesten Berichten des Focus womöglich am
Anschlagsort bei der Flucht des Attentäters half, muss ebenso untersucht
werden wie die Tatsache, dass das Bundeskriminalamt keine
Ermittlergruppe gegründet hatte, um die Probleme durch eine zentrale
Ermittlungsführung in den Griff zu bekommen, die der spätere Attentäter
durch seine Reisen zwischen NRW und Berlin hervorgerufen hatte.
Personelle Konsequenzen sollten aber dort gezogen werden, wo eine
rechtsradikale Weltsicht den Blick verstellt und wo versucht wurde, das
eigene Fehlverhalten zu vertuschen. Egal, ob durch Manipulation von
Akten und Datenbanken, Blitzabschiebung von Zeugen oder durch die
konsequente Behauptung, der Verfassungsschutz sei für den Fall des
Breitscheidplatz-Attentäters nicht von Belang.
Im relevanten Teil der Sitzung gesteht Kriminaldirektor Axel B. Versagen ein. Zunächst aber leistet sich die große Koalition mit ihrer Zeugenladung einen Bärendienst.
Staatsanwalt K. aus A. kommt aus
Nordrhein-Westfalen nach Berlin und hält ein juristisches Proseminar.
Ihm ist kein Vorwurf zu machen. Er wird allen Anforderungen gerecht, die
man angesichts der Bearbeitung eines Bagatelldeliktes an den
62-Jährigen haben kann.
Dr. Wolfgng Kowalzik, Staatsanwaltschaft Arnsberg
Es
geht um einen Fahrraddiebstahl. Neuwert des Rades: 599 Euro. Zeitwert:
100 Euro. Der Täter: nicht eindeutig zu ermitteln. Die Einstellung des
Verfahrens: ein Routineakt. Die Zuschauer im Saal erfahren jedes Detail,
das in die Routineerwägungen des Staatsanwalts mit einzubeziehen war.
Details bis hin zu den Fragen, ob das Fahrrad als Hehlerware irrtümlich
erworben wurde und ob es nur mitgeführt oder auch benutzt wurde.
Staatsanwalt K. wägt ab, ob die Tretkurbel des Fahrrades durch den Täter
in Benutzung war und somit eine unzulässige Gebrauchsaneignung vorlag.
Zu den regelmäßigen Besuchern des Ausschusses zählt an solchen Tagen für gewöhnlich ein Überlebender des Anschlags, der am Abend des 19.12.2016 auch Ersthelfer am Breitscheidplatz war. An diesem Tag schafft er den Besuch des Ausschusses aus gesundheitlichen Gründen nicht, wie er in den sozialen Medien mitteilt. Er kämpft mit den Folgen des LKW-Attentats, während die Obleute von CDU, AfD und SPD das juristische Proseminar im Saal 4.900 durch ihre Nachfragen befeuern.
FDP, Grüne und Linke erteilen dieser Farce eine
deutliche Absage. Irene Mihalic (Grüne) twittert: „Das
Strafrechtskolloquium im #UA1BT ist hoffentlich bald beendet.“ Und auch
Benjamin Strasser (FDP) findet deutliche Worte: „Das ist der Schlüssel
zum Fall Amri: der Fahrraddiebstahl in NRW! Das ist der Erkenntnisgewinn
der von der @cducsubt gewünschten Zeugen im #UA1BT … #ohneworte“ Auch
ein Mitarbeiter der FDP-Fraktion macht seinem Ärger über die
Zeugenladung Luft und kolportiert aus den nicht-öffentlichen
Beratungssitzungen: „Darum bitten, dass die Sitzung grundsätzlich um 21
Uhr enden möge, aber jedes Mal die ersten Stunden mit längst Bekanntem
wiederkäuen. #GroKo #Verzögerungstaktik #ablenken“
Staatsanwalt
S. aus Berlin hält als zweiter Zeuge einen kurzen, präzisen und
schlüssigen Vortrag in Begleitung seines Rechtsbeistands. Auch sein
Verhalten ist nicht zu beanstanden und für die Arbeit des Ausschusses
ebenso irrelevant.
Jan-Hendrick Schumpich, Staatsanwaltschaft Berlin
LKA 54, Berlin
Mit
Zeuge Axel B. beginnt der relevante Teil des Sitzungstages, der sich
bis in die Abendstunden zieht. Als leitender Kriminaldirektor ist seine
Fachexpertise gefragt. Nicht nur das Handeln seiner Abteilung stand nach
dem Anschlag vom Breitscheidplatz in der Kritik. Auch seine
Nebentätigkeit, die er – rechtlich einwandfrei – mit Genehmigung seiner
Behörde ausübt, wirft Fragen auf.
Die Mitarbeiter seiner Abteilung beklagten 2016 Arbeitsüberlastung, und aus dem Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen gab es offenbar Beschwerden über die Erreichbarkeit des Krisenmanagers. Axel B. muss sich auch über diesen Punkt hinaus rechtfertigen. Da der spätere Attentäter mal in Dortmund, mal in Berlin unterwegs war, wechselten sowohl die Zuständigkeit der Länderpolizeien als auch die Zielrichtung der Ermittlungen. Es wirkt, als hätten die Behörden den Überblick verloren. Ein Kritikpunkt ist eine Gefährderansprache, bei der ein Mobiltelefon sichergestellt wurde.
Damals stand im Raum, dass der spätere
Attentäter Schnellfeuergewehre beschaffen wollte. Da es dem Berliner LKA
jedoch an Überwachungskapazitäten fehlte, konfrontierte es den
Gefährder und konfiszierte sein Mobiltelefon gegen den Willen der
Behörden in NRW, die bereits eine Telekommunikationsüberwachung
durchführten. Axel B. schildert, dass das Gerät eingezogen und zur
Auswertung an den Verfassungsschutz übergeben wurde. Wer letztlich die
Entscheidung traf, ist allerdings nicht mehr nachvollziehbar.
Welche
anderweitige Gefahr höher bewertet wurde als ein mit Top-Dschihadisten
vernetzter Mann, der Kalaschnikows beschaffen wollte, kann Axel B. nicht
plausibel darlegen.
Nachvollziehbarkeit
Axel B., LKA Berlin
So
deutlich sich Axel B. vor seine überlasteten Mitarbeiter_innen stellt,
so klar werden auch die Versäumnisse im LKA. Trotz der Vernetzung des
späteren Attentäters mit mehreren Personen, die bereits im Fokus von
Ermittlungen standen, gab es in seinem Fall keine besondere
Ausbauorganisation, umgangssprachlich auch Sonderkommission genannt, die
behördenübergreifend gebildet werden kann und sich speziell mit einem
Fragenkomplex oder Gefährder befasst. In der Abteilung des Axel B.
liefen zahlreiche Informationen zusammen, aber viele davon wohl auch nur
vorbei.
In seiner Vernehmung erläutert B.
die Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten. Erst im Nachhinein, und zwar
im Februar 2017, hätte er von Vertrauenspersonen erfahren, die der
Verfassungsschutz im Umfeld des späteren Attentäters platziert hatte.
Axel B. beschreibt, dass es für das LKA unüblich sei, die Geheimdienste
proaktiv nach solchen Vertrauenspersonen zu befragen. Wenn relevante
Informationen für das LKA vorhanden gewesen wären, hätten das die
Dienste sicherlich weitergegeben. Überhaupt scheinen Nachfragen eher
vermieden zu werden.
Allgemeines Erstaunen in großer Runde
Im
LKA Berlin gab es keine Nachforschungen nach undichten Stellen. Am
Abend des Anschlags, als Medien bereits in den ersten beiden Stunden mit
reichlich inoffiziellen Informationen aus Sicherheitskreisen
ausgestattet waren, meldete sich zielsicher ein Dresdener Rechtspopulist
mit einem Tweet zu Wort. Schon um 22:30 Uhr spricht er von
Informationen aus Polizeikreisen, die auf einen Moslem tunesischer
Herkunft hindeuten würden. Das Ergebnis: „allgemeines Erstaunen in
großer Runde“, aber keine internen Ermittlungen. Pikant: bis zur
internationalen Fahndung nach dem Attentäter, der sich als tunesischer
Moslem herausgestellt hat, dauert es noch mehr als 24 Stunden. Sicher,
man kann den Tweet auch als Zufallstreffer werten. Doch spätestens seit
Mitte 2018 aus der internen Kommunikation von Mitarbeitern der
LKA-Ermittlungsgruppe Naziparolen öffentlich wurden, erscheint der
mittlerweile gelöschte Tweet in einem anderen Licht.
Der
Fragenkatalog, den die Opposition an diesem Sitzungstag nahezu ohne
Interventionen der Landesbehörden abarbeiten kann, ist lang. Warum wurde
das Material aus mindestens zwei, vermutlich sogar mehr Kameras, nicht
ausgewertet, mit denen die Fussilet-Moschee überwacht wurde? Warum
wurden die Hinweise des marokkanischen Geheimdienstes auf den späteren
Attentäter im Oktober 2016 nur unzureichend und erst nach dem Anschlag
vollständig übersetzt? Wieso dauerte es 28 Stunden, bis der Attentäter
identifiziert und international zur Fahndung ausgeschrieben war, obwohl
im Tatfahrzeug zwei Mobiltelefone, Fingerabdrücke und sogar
Personenpapiere gefunden wurden? Wie rechtfertigt die Behörde die
Single-Point-of-Contact-Runden zwischen polizeilichem Staatsschutz und
Verfassungsschutz, die weder inhaltlich noch in Bezug auf die Teilnehmer
dokumentiert sind?
In öffentlicher Sitzung hat Axel B. für all das keine Erklärung, arbeitet die Krise im eigenen Arbeitsbereich aber souverän und eloquent ab. „„Der Terroranschlag hat mich und mein Dezernat erschüttert. Das Ziel unseres Dezernats ist es, die Bevölkerung vor solchen Taten zu schützen. Am 19.12.2016 ist das uns – ist das MIR – nicht gelungen“, sagte Axel B. selbstkritisch zu Beginn seiner Vernehmung. Der Kriminaldirektor geht nach den mittlerweile verfügbaren Informationen nicht mehr von einem Einzeltäter aus und ist damit weiter, als der Verfassungsschutz. Dessen Verantwortliche sprechen überwiegend und unbelehrbar von einem reinen Polizeifall und lassen nur wenige Anzeichen von Selbstkritik erkennen.
Eine effektiv-effiziente Zeugenaussage mit einem bedrückenden Fazit und reichlich Befragungszeit ohne Ergebnis. Der Untersuchungsausschuss kommt nur schleppend voran
Besuch aus Nordrheinwestfalen füllt die Tribüne
über dem Saal 4.900. Unten im Saal sitzen die Parlamentarier des
Bundestages. Auf der Tribüne die Landtagsdelegation, die in Düsseldorf
derzeit am gleichen Thema arbeitet. In beiden Parlamenten suchen sie
nach einer Erklärung, warum der schwerste islamistische Anschlag, den
das Land bisher erlebt hat, nicht verhindert werden konnte.
Zeugin
Petra M. fördert zutage, dass das Verkleidungsbudget des Bundesamtes
für Verfassungsschutz für weibliche Zeugen knapp bemessen ist. Sie
erscheint im gleichen Stil wie vor einigen Monaten die Zeugin Lia
Freimuth und trägt augenscheinlich auch die gleiche, wenn nicht gar die
selbe Perücke.
Zeugin Petrag M. (BfV – Verbindungsbeamtin im GTAZ)
Der
Informationsgehalt ihrer vierstündigen Zeugenaussage hat leider
keinerlei Ähnlichkeiten mit der Aussage von Lia Freimuth. Anders als
Freimuth, die deutlich Stellung bezog, ist Petra M. als Zeugin
offenkundig fehl am Platz. Obwohl sie als Verbindungsbeamtin im
gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ sowohl an den täglichen
Lagebesprechungen als auch an den Sitzungen für den operativen
Informationsaustausch teilnimmt, kann sie dem Ausschuss keine
inhaltlichen Angaben machen. Ihre Aussage entwickelt realsatirische
Züge, als sie den Obleuten auch nach mehreren Befragungsrunden immer
noch kein Bild von ihrer Tätigkeit vermitteln kann.
„Sie
saßen in dem Raum, in dem das Thema erörtert wurde. Sie haben Ohren.
Sie haben gehört. Nur das sollen sie wiedergeben“, konkretisiert Irene
Mihalic, Obfrau der Grünen, den Anspruch an die Zeugin, die sich auch
nach mehrmaliger Nachfrage nicht an Themen und Anlässe für Sitzungen
erinnern können will. Sicher aber ist sich Petra M., keine E-Mails mit
Bezug zum späteren Attentäter erhalten zu haben. So richtig zusammen
passt all das nicht.
Nach etwa dreieinhalb Stunden vergeblicher Versuche, substanzielle Inhalte zu erfragen, gesteht die Zeugin schließlich ein: „Ich glaub, da hab ich mich falsch ausgedrückt. Ich bin nicht die Person, die den inhaltlichen Überblick hat.“ In der Folge schildert Petra M. Aufgaben, die der einer Sekretärin nahekommen. Namensschilder habe sie gedruckt, E-Mails verschickt und „Überblick“ bezog sich lediglich darauf, dass sie wisse, wie man die Kommunikation der betroffenen Behörden in Gang bringe.
Keine Frage, die Organigramme von
Verfassungsschutz, Kriminalämtern und Bundesnachrichtendienst, Zoll,
Bundesamt für Migration- und Flüchtlinge , Generalbundesanwalt,
Militärischen Abschirmdienst und Bundespolizei zu kennen und den
Informationsfluss zu steuern, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Unklar
aber bleibt, wie Petra M. ihrer Arbeit nachkommen will. Die Inhalte der
täglichen Lagebesprechungen sind ihr nicht einmal aus den Tagen direkt
nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz auch nur ansatzweise im
Gedächtnis.
Kurz, knapp, präzise in den Fehlschluss
Zeugin Sabrina Bové markiert mit ihrer Aussage das andere Ende der
Qualitätsskala. Sie erscheint mit einer gut sortierten Mappe und einem
eigens angefertigten Zeitstrahl vor dem Ausschuss und kann präzise
Angaben machen.
Sie ist Beamtin des
mittleren Dienstes und war 2015 in der Ausländerbehörde der Stadt
Oberhausen tätig. Mit dem späteren Attentäter hatte sie zunächst unter
einer seiner falschen Identitäten Kontakt, mit denen er Sozialbetrug
begangen hatte. Als sich Hinweise darauf ergaben, weil Anfragen aus
Berlin auf dem Tisch der Sachbearbeiterin landeten, forschte sie nach
und konnte die Mehrfachidentitäten des späteren Attentäters
zusammenführen. Beim nächsten Termin konfrontierte sie ihn mit ihrer
Recherche im Ausländerzentralregister, verwies ihn an das zuständige Amt
in Kleve und informierte das Sozialamt, das die unrechtmäßig erhaltenen
Zahlungen daraufhin einstellte.
Nach dem Attentat erinnerten
sich Bové sowie einer ihrer Vorgesetzten an den Fall. Gemeinsam stellten
sie schnell fest, dass sie den Fall des späteren Attentäters bearbeitet
hatten.
Zeugin Sabrina Bové (Beamtin aus der Ausländerbehörde Oberhausen)
Die Zeugin erscheint geradezu
mustergültig in Berufsauffassung und Arbeitsethos, was sie selbst unter
schwierigsten Bedingungen im Jahr 2015 unter Beweis stellte, als statt
der regulären 350 Fälle plötzlich Fallzahlen von 1000 in Oberhausen
landeten.
AfD-Obfrau Beatrix von Storch lässt die Chance nicht
ungenutzt, um das Narrativ der überforderten Verwaltung zu festigen, die
mit den Folgen der Kanzlerinnenentscheidung zu kämpfen hatte. Bové
lässt sich darauf ein und schildert, das im Kollegenkreis die Abläufe
der Erfassung kritisch gesehen wurden. Da man damals auf die sofortige
Erfassung von Fingerabdrücken und die Gegenprüfung im
Ausländerzentralregister verzichtet hätte, wäre ein Anschlag ja nur eine
Frage der Zeit gewesen.
Eine Logik, die zu
kurz greift. Eine umfassende Überprüfung der Datenbanken und die
Erfassung der Fingerabdrücke hätten den Sozialbetrug verhindern können.
Als Kleinkrimineller jedoch, dessen dokumentierte Vergehen lediglich in
unerlaubtem Drogenbesitz und einer Schlägerei bestanden, wäre er
sicherlich deutlich früher vom Radar der Sicherheitsbehörden
verschwunden.
Aber das Radar funktionierte.
Trotz seiner Mehrfachidentitäten war der spätere Attentäter schon nach
wenigen Wochen im Land Thema bei den Sitzungen der Sicherheitsbehörden
im GTAZ. Nach aktueller Zählung insgesamt 13 Mal. Zuletzt gingen im
November 2016 Hinweise des marokkanischen Geheimdienstes zum späteren
Attentäter ein. Doch die Gefahr eines Anschlags will keine Behörde
wahrgenommen haben.