Podcast zum 1. Untersuchungsausschuss

Autor: DanielLuecking (Seite 4 von 5)

14. Sitzung am 17.01.2019 – Kaum frischer Wind im neuen Jahr


Kaum frischer Wind im neuen Jahr

Mit einem relevanten Zeugen startet die erste Anhörung im neuen Jahr, um anschließend mit dem zweiten Zeugen wieder zur chronologischen Aufarbeitung zurückzukehren

Zeuge Mohammed J. sagt etwa zwei Stunden vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Attentat vom Breitscheidplatz aus. Im Jahr 2015 kam er gemeinsam mit dem späteren Attentäter in einer Geflüchtetenunterkunft in Emmerich in Nordrheinwestfalen an. Dort teilten beide für etwa einen Monat ein Zimmer.

Mohammed J. beschreibt den späteren Attentäter als aufbrausend, laut und sendungsbewusst. Immer wieder wies jener andere Muslime zurecht und sagte ihnen, was sie tun oder unterlassen sollten. Mohammed J. kannte dieses Verhalten bereits von IS-Anhängern aus seinem Heimatland Syrien, die auf ihn „wirkten, als hätten sie eine Gehirnwäsche erhalten“.

Im Team übersetzen zwei Dolmetscher die Worte des Mittzwanzigers, der ruhig, geradlinig und gefasst auf die Fragen der Obleute im Ausschuss antwortet. Präzise legt er dar, welche Informationen er schon in den ersten Wochen des Zusammenlebens an die Heimleitung weitergab. Videochats mit einem eher marrokanisch-algerisch-tunesischen Akzent bekam Mohammed J. ebenso beiläufig mit wie eine gezeichnete IS-Flagge im persönlichen Notizbuch des späteren Attentäters.

Zeuge J (Mitbewohner des späteren Attentäters in der Erstaufnahmeeinrichtung in Emmerich)

Zwei Welten

Eine Freundschaft entstand nicht. Während Mohammed J. die Moschee nur zu Hochfesten wie dem Fastenbrechen aufsucht, war der spätere Attentäter täglich in der Moschee in Emmerich. „Beten kann ich auch allein für mich“, sagt Mohammed J. Er grenzte sich von den Forderungen seines Mitbewohners ab: nach Syrien gehen, kämpfen, keine Musik mehr hören und vorher möglichst viel Geld von den deutschen Behörden erschleichen. Was dazu nötig war, wusste der Tunesier offenbar sehr genau und drängte die Mitbewohner, es ihm gleich zu tun.

Einst war der spätere Attentäter selbst so wie seine Mitbewohner, rauchte und hörte Musik. Sein Leben aber hätte sich im italienischen Gefängnis geändert, als er auf Dschihadisten getroffen wäre und dann den richtigen Weg eingeschlagen hätte.

Mohammed J. berichtete der Heimleitung von den Vorkommnissen und Verhaltensweisen des Tunesiers. Auch die Zimmergenossen beschwerten sich über das Verhalten des Tunesiers. Ein Gespräch, das ein Betreuer auf Französisch mit dem späteren Attentäter geführt hatte, änderte nichts. Ein Betreuer, der die Muslime oft mit „Allahu akbar“-Grüßen provozierte. Keine Polizei, kein Verfassungsschutz – die Beobachtungen blieben ohne Reaktion der Sicherheitsbehörden.

Auch zur Jahresmitte 2016, als Mohammed J. während einer Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gefragt wurde, ob er auf Dschihadisten oder Terroristen getroffen wäre, verwies er auf den späteren Attentäter. Doch wieder reagierten die Sicherheitsbehörden nicht.

Zu spät

Nach dem Anschlag am 19. Dezember 2016 war Mohammed J. auf das Fahndungsbild aufmerksam geworden und prüfte den Facebook-Kontakt, den er mit dem Tunesier im Jahr zuvor geschlossen habe. Er vermutete dort ein IS-typisches Bekennervideo. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Profil bereits deaktiviert. Nach dem Anschlag meldeten sich dann endlich Behördenvertreter, die sich als LKA-Beamte vorstellten, jedoch auf Mohammed J. nicht wirkten wie Polizisten in Zivil. In einem sehr kurzen Gespräch gab er nochmals zu Protokoll, was er über den Attentäter wusste. Erst jetzt in der Ausschusssitzung erfährt er, dass der Attentäter auf seiner Flucht nach dem Anschlag auch wieder durch Emmerich gekommen sein musste.

„Fassungslos!“, twittert die Obfrau der Grünen Irene Mhalic. „Mitbewohner von #Amri in Emmerich gibt früh Hinweise auf dessen IS-Bezug und wird von den Sicherheitsbehörden ignoriert. Auch nach dem Anschlag fragt man ihn nicht nach Amris Fluchtweg über Emmerich. Dass Amri noch einmal dort war, erfährt er erst hier im #UA1BT.“ Mihalic bringt das Behördendilemma auf den Punkt.

Ein weiterer Mitbewohner aus der Emmericher Unterkunft ist für diesen Tag vorgeladen, erscheint aber nicht und hat sich auf die Ladung des Ausschusses nicht zurückgemeldet, wie es aus Kreisen der Obleute heißt. Dieser Zeuge hatte das auffällige Verhalten laut den Unterlagen des Ausschusses an einen anderen Mitarbeiter der Heimleitung berichtet, der daraufhin die Polizei verständigte. Eine Anhörung muss es nach dem Ausschussgeschehen zu urteilen wohl im November 2016 kurze Zeit vor dem Anschlag gegeben haben.

Auffälligkeiten

Nach der Sitzung ist klar, dass schon in der Unterkunft in Emmerich viel übersehen wurde. So wurde der Tunesier unter einem anderen Namen geführt, während er sich seinen Mitbewohnern bereits als Anis Amri zu erkennen gab. Ein Name, der auch auf Türschildern verwendet wurde. Eine Erklärung, warum ernstzunehmende Hinweise des Zeugen an die Heimleitung gingen, aber nicht zur Anzeige gebracht wurden, suchten die Obleute vergebens.

Zeuge Schimanski

Die Befragung des Zeugen Mark Schimanski kommt schon nach den ersten Sätzen zum gleichen Ergebnis wie so häufig in den vergangenen Monaten des Ausschusses: „Ich habe in der zentralen Ausländerbehörde als Registrierer in der Ersterfassung gearbeitet und kann mich an ihn [den späteren Attentäter] nicht erinnern.“

Das Befragungsprozedere der CDU/CSU-Fraktion, die auch 2019 mit der chronologischen Aufarbeitungstaktik vielen Sachbearbeitern eine Kurzreise nach Berlin ermöglicht, dehnt die Befragung dann immerhin auf knapp 40 Minuten aus.

Nicht öffentlich

Relevante Informationen darf der dritte Zeuge des Tages – Tarnname: Carlo Macri, ein Beamter aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz – dann nur noch in nicht-öffentlicher Sitzung präsentieren. Seine operative Tätigkeit verbietet eine öffentliche Aussage. Sowohl sein Anblick als auch seine Stimme sind für Gäste und Journalisten tabu. Deshalb wird die Vernehmung auch nicht in einen Nachbarsaal übertragen. Die Öffentlichkeit kann nur darauf hoffen, dass die nicht-öffentliche Aussage in Kürze als Protokoll verfügbar gemacht wird.

Die einfachste Lösung, um dem Öffentlichkeitsgrundsatz des Ausschusses gerecht zu werden, ist die technische Stimmenverfremdung. Hier mangelt es der Ausschussleitung aber wohl eher am Willen als am Budget.


13. Sitzung am 13.12.2018 – Wie Medien der CDU helfen

Im Amri-Untersuchungsausschuss lockt die Klage der Opposition TV-Journalisten. Über den Rest der Sitzung berichtet kaum jemand. Der Regierung spielt das in die Hände.

Journalist René Heilig macht an diesem Sitzungstag alles richtig. Sein Artikel im Neuen Deutschland bringt es schon im Vorspann in wenigen Worten auf den Punkt: „zum lahmen Amri-Untersuchungsausschuss und der Klage der Opposition“. Alles weitere versteckt sich leider hinter der Paywall beim ND (Neues Deutschland).

Kein Wunder. Der Untersuchungsausschuss zum Attentat vom Breitscheidplatz ist ein Thema, das keinen Journalisten ernähren kann. Der Aufwand der Berichterstattung steht längst in keinem Verhältnis mehr zu Ertrag. „Aufklärung“ erwartet ohnehin niemand – schon gar nicht zur üblichen Arbeitszeit. Aber von vorne.

Nach der Pressekonferenz um 10 Uhr dauert es noch einmal bis etwa 12 Uhr 25 bis der öffentliche Sitzungsteil beginnt. Als Wunschzeugin der Regierungsparteien wird Staatsanwältin Kerstin Wendler von der Staatsanwaltschaft Berlin gehört. Schon in ihrem Eingangsstatement weist auch diese Zeugin darauf hin, keinen Kontakt zum späteren Attentäter gehabt zu haben, der über Papierarbeit hinaus ging. Eine Aliasidentität lag vor, die einen noch minderjährigen Ersttäter vermuten ließ. Er soll einen Sicherheitsbeamten am Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin geschlagen haben. Keine weiteren Anhaltspunkte für andere Gewalttaten. Keine Überprüfung der Fingerabdrücke. Das Verfahren wurde eingestellt, weil die beschuldigte Person nicht mehr auffindbar war.

Einzig interessanter Aspekt: kurz vor Einstellung des Verfahrens gab es wohl einen Hinweis der Polizeidirektion Konstanz, dass die Identität des späteren Attentäters falsch sein könnte. Auch nichts ungewöhnliches in den Jahren 2015 und 2016. Schreib- und Übersetzungsfehler waren Alltag und mehrere Identitäten gesichert einer Person zuordnen zu können, erfordert mehr Aufwand, als die Justiz und Behörden dieser Tage leisten konnten. „Was machen wir hier“, wirft Martina Renner in den Raum, als der AfD-Vertreter Seitz nach der Übermittlung der Fahndungseinstellung fragt und wissen will, ob die Meldung digital oder auf Papier abgesetzt wurde.

10 Stunden Ausschuss – minimalster Nachrichtenwert

Die Aussage der Zeugin endet um 19 Uhr. Zwischen 13:30 Uhr und etwa 18:45 Uhr wurde noch Zeuge K.M. vernommen, der unter hohen Sicherheitsvorkehrungen aus dem Gefängnis zur Aussage in den Bundestag verbracht wurde. Um den Zeugen K.M. nicht einzuschüchtern – ein Straftäter und Kleinkrimineller, bei dem aber wohl Fluchtgefahr besteht – findet die Vernehmung nicht öffentlich statt. Im späteren Sitzungsteil gibt der Vorsitzende Armin Schuster (CDU) noch einen minimalen Einblick, als der in einer Frage bestätigt, es habe digitale Kommunikation des späteren Attentäters via Facebook mit Zeugen K.M. gegeben.

Als gegen 19:45 Uhr nun der Zeuge des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) Henrik Isselburg zur Vernehmung antritt, sind gut 10 Stunden seit Beginn dieses Sitzungstages vergangen. Zum wiederholten – und mittlerweile gewohnten – Mal, beginnt der relevante Teil des Sitzungstages erst nach Redaktionsschluss der Printmedien. Unplanbar für Radio- und TV-Berichterstattung und nach hinten auf maximal vier Stunden begrenzt, denn der stenografische Dienst arbeitet bis maximal 24 Uhr.

Schulterzucken oder ein „geht nicht anders“ wäre das Maximum, was an Statements von Obleuten einzuholen ist. Faktisch ist es die Ausschussmehrheit, die den Tagesablauf verantwortet und festlegt, sowie ein überbetont neutral agierendes Ausschusssekretariat, das damit die Regierungsinteressen stützt, statt die parlamentarische Aufklärung und den Öffentlichkeitsgrundsatz in den Vordergrund zu stellen.

Eskalation zu später Stunde – reloaded

Als Zeuge Isselburg seine Aussage beginnt, sind noch eine Korrespondentin der Zeitung „Junge Welt“, ein freier ARD-Journalist, eine Korrespondentin der Nachrichtenagentur dpa sowie der Kollege des Hausmediums „Heute im Bundestag“ auf der Tribüne. Ein Opfer des Anschlags sitzt auch dort. Auf seine Initiative hatte Armin Schuster zu Beginn dieser letzten Sitzung des Jahres eine Schweigeminute abgehalten. Zwei verirrt wirkende Herren verbringen einige Minuten auf der Besuchertribüne, eine themeninteressierte Frau und die Bundestagspolizei, die ohnehin nicht anders kann – mehr Öffentlichkeit bleibt dem Ausschuss nicht.

Auch das Hausmedium „Heute im Bundestag“ stützt mit seiner rein nachrichtlichen Berichterstattung und Zeugenzitaten die Linie der Regierungspartei und des Ausschusssekretariats. Einordnung findet kaum statt. Gegen 22 Uhr verlässt der Kollege die Tribüne und schreibt seinen Text. Er verpasst einiges. Nachrichtlich möglich wäre die Anmerkung, dass der Zeuge wiederholt von sieben Behandlungen des späteren Attentäters im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ spricht, statt von elf.
Korrekt wäre die Feststellung, dass bis dato kein Zeuge des BfV belegt hat, was auch Isselburg behauptet, nämlich das diese Häufung nicht ungewöhnlich sei. Den Parlamentariern liegen dafür aber bisher keine Belege vor.

Journalistisch korrekt könnte man wiedergeben, dass es weiterhin keine Erklärung dafür gibt, warum keine digitale Überwachung der internetaffinen Top-Islamisten im BfV stattfand und dass Zeuge Isselburg das eng mit dem späteren Attentäter verknüpfte Abu Wallah-Verfahren nicht erinnern kann. „Das ist erstaunlich. Das ist der Stellvertreter des IS in Deutschland!“ stellt Martina Renner fest und verweist darauf, dass der spätere Attentäter als Nachrichtenmittler für Abu Wallah tätig gewesen sein soll.
Berichtenswert wäre auch das Verhalten des sehr redefreudigen Zeugenbeistandes, der kein Rederecht hat, die Eskalation in eine erneute Beratungssitzung und die pikiert wirkenden Interventionen der Bundesregierung, als sich die Fragestellungen von FDP, Grünen und Linken nach mehreren Ansätzen endlich verdichten können.

Sie kommen zum Zug, weil AfD und CDU/CSU nicht mehr fragen wollen und die SPD noch noch kurz zur Ehrenrettung kritisiert, dass Zeuge Isselburg mit 21 Diensttagen im relevanten ersten Halbjahr 2016 bestenfalls tageweise sein Referat führte und „auf Anhieb“ nur drei der insgesamt unbekannten Zahl an Vertretern benennen kann. Seine Mitarbeiterin Lia Freimuth lobt Isselburg indes für ihre Selbständigkeit, was bei einem seiner Vertreter Gilbert Siebertz noch ganz anders klang.

Am Ende des Tages erscheint im Hausmedium des Parlaments ein Bericht, der keinen Hinweis mehr darauf gibt, dass der Ausschussvorsitzende Schuster die Opposition attackiert, die für seinen Geschmack die selbe Frage zu oft stellt. Auf Nachfrage von Konstantin von Notz (Grüne), kann Schuster dann aber nicht präzisieren, welche Frage das sein soll und eskaliert ein letztes Mal an diesem Tag in eine nicht-öffentliche Beratungssitzung mit der er am liebsten den Tag für die Öffentlichkeit gänzlich beendet hätte.

Durchsichtiges Spiel

Unterm Strich gewinnt an diesem Tag Kollege René Heilig, der sich ob seiner Erfahrung das unwürdige Spiel nicht bis zum Schluss angetan hat. Zielsicher sagte er vorher, was sich später bewahrheitete. Sowohl die Eskalationen des Anwalts, als auch die des Ausschussvorsitzenden sind ein erwartbares Spiel, dessen Ziel es ist, keine Aufklärung stattfinden zu lassen. Vielfach gesehen im NSA-Untersuchungsauschuss und nun ist sich auch im Fall des Breitscheidplatzattentats die Regierung nicht zu schade, parlamentarische Aufklärung ad absurdum zu führen. Zu Lasten der Opfer, Angehörigen und Hinterbliebenen. Der „lahme Amri-Untersuchungsausschuss“ stinkt. Und das vom Kopf her.

12. Sitzung am 29.11.2018 – Nicht schlüssig

Nicht schlüssig

Irgendetwas wird im Internet-Referat E6 im Bundesamt für Verfassungsschutz überwacht. Am Ende des Sitzungstags ist klar: Relevante islamistische Gefährder sind es nicht

Informationen zu 81 Namen fragte der Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz-Attentat bei der Bundesregierung an. 42 weitere Namen gab das Innenministerium hinzu, weil man sie dort für relevant hielt. Die Namensliste der 123 klingt wie das Who’s Who der Islamistenszene. Neben Propagandisten der radikal-islamistischen Szene wird gegen einige Personen bereits im Abu-Walaa-Prozess ermittelt. Personen, die nach allgemeinem Verständnis zum Umfeld des Attentäters vom Breitscheidplatz gehörten.

Das Referat E 6 der Zeugin Cordula Hallmann kann nichts vorweisen. 123 Mal keine Erkenntnisse. 123 Mal keine Sammlung von Informationen in Facebook und anderen sozialen Netzwerken. Nicht aus offenen Quellen wie der Kommunikation in Gruppen. Nicht aus Chats und anderem Nachrichtenfluss.

Zu den genannten Personen gab es in anderen Referaten des Verfassungsschutzes allerdings Personenakten, teilweise auch Verdachtsmomente. Oder es wurde mit klassischen nachrichtendienstlichen Mitteln an den Personen gearbeitet. Der spätere Attentäter selbst war elf Mal Thema im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ, doch offenbar erteilte niemand den Auftrag, Erkenntnisse zur Person im Internet zu sammeln.

„Maximal unglaubwürdig“, twittert die Obfrau der Linken Martina Renner. „Auf der Liste standen der IS-Prediger Abu Waala, der mutmaßliche Mittäter Bilel Ben Ammar, Kontaktpersonen aus der Fussilet-Moschee und viele andere mehr. Und zu denen will das BfV keine Erkenntnisse im Internet erhoben haben?“

Auch der Ausschussvorsitzende Armin Schuster ist irritiert, dass weder Facebook- noch WhatsApp-Accounts des Attentäters überwacht wurden. „Ich war sehr überrascht, dass das nicht zum Standardrepertoire gehört im Fall eines islamistischen Gefährders, der zwar einer von vielen war, trotzdem aber vom BfV selbst auch als herausgehoben bewertet wurde“, sagte Armin Schuster (CDU/CSU) nach der Sitzung. „Es wurde ja einiges unternommen wie die Vorlage von Lichtbildern. Und gerade weil diese Lichtbildvorlagen gescheitert sind, hätte ich mir bei so vielen Fragezeichen vorgestellt, dass man seine Kommunikation und Aktivitäten in sozialen Medien anschaut. Das hat mich sehr überrascht.“

Maximal unglaubwürdig

Nicht nur die prominenten Namen auf der Liste der 123 machen stutzig. Selbst der spätere Attentäter hatte bereits eine Gefängnisstrafe in Italien verbüßt und dort einen Eintrag in das Schengener Informationssystem erhalten. In Deutschland hatte er Kontakt zu Abu Walaa, der via Facebook, Youtube und Telegram predigt und schon deshalb ein Fall für den Arbeitsbereich der Zeugin Hallmann hätte sein müssen.

Darüber hinaus gab es Hinweise ausländischer Nachrichtendienste in Richtung der deutschen Behörden. Eigentlich genug Anlass, um alle zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle des späteren Attentäters zu überwachen sowie das sichtbare digitale Kontaktumfeld zu prüfen. Doch nach Aussage von Zeugin Hallmann passierte nichts dergleichen.

Weder per Hand noch automatisiert wurden die digitalen Kanäle überprüft, obgleich die Sicherheitsbehörden in Deutschland eine Reihe an Programmen zur Analyse digitaler Vernetzungen und Kommunikationskanäle nutzen. Darunter auch XKEYSCORE, das beim Verfassungsschutz angeblich nur in einem Testbetrieb lief, aber in den Jahren vor dem Attentat mit Daten aus dem Bereich des islamistischen Extremismus gespeist wurde, wie Martina Renner hervorhob.

Sichtlich ins Stocken geriet Zeugin Cordula Hallmann, als sie nach den Übersetzungskapazitäten ihres Referates bei den Sprachen Arabisch und Türkisch gefragt wurde. „Sie haben scheinbar nicht die Kapazitäten, die Top-50-Gefährder und Verdächtige mitzuplotten und zu schauen, was treiben die eigentlich?“, schließt der Ausschussvorsitzende Armin Schuster. Als andere Erklärung bliebe nur die Annahme, dass die Online-Aktivitäten von islamistischen Gefährdern gar nicht beim Verfassungsschutz ausgewertet werden. Aber wo dann?

(Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass zu Beginn des Sitzungsgeschehens der ehemalige Senator für Gesundheit und Soziales Mario Czaja dem Ausschuss die Zustände im Landesamt für Gesundheit und Soziales im Jahr 2015 und 2016 erörterte und der angekündigte zweite Zeuge des Bundesamtes für Verfassungsschutz Carlo Macri nur in geheimer Sitzung vernommen werden soll.)

11. Sitzung am 08.11.2018 – Reduktion durch Redundanz

Die große Koalition kocht derzeit ein ganz eigenes Süppchen. Ein kleines Kochrezept für die Reduktion von Medienöffentlichkeit rund um das Attentat vom Breitscheidplatz.

Ein Sitzungstag ‒ so vorhersehbar in den Abläufen wie in seinem Endergebnis. Ohne die achtköpfige Reisegruppe aus Münster wäre die Besuchertribüne mit kaum mehr als zehn Menschen gefüllt gewesen. Darunter bereits zwei Saalpolizisten. Auch Medienvertreter sind bei der Vernehmung der LaGeSo-Zeugen kaum zu finden. Ein freier Hörfunkjournalist der ARD und ein Journalist vom Hausmedium des Bundestags: Stammgäste auf der Tribüne.

Bei anderen Medien scheitert der Ausschuss. Das müsste so nicht sein und ist wohl der Taktik der CDU/CSU zu verdanken, die von der SPD mitgetragen und von der Opposition kritisiert wird. Als sich in den Pressegesprächen bei Linksfraktion und Grünen abzeichnet, dass in dieser Woche nur Wunschzeugen der Koalition öffentlich vernommen werden, winkt Redaktion für Redaktion ab.

Das Thema sei ohnehin nur schwer im Programm zu platzieren, ist zu vernehmen. Ohne den Verfassungsschutzzeugen in öffentlicher Sitzung lohne sich der Tag nicht. Zwei große Zeitungen kommen noch zum Pressehintergrundgespräch bei den Grünen, sparen sich dann aber den Weg in den Ausschuss. Zu Recht.

Es passiert wenig. Wenn überhaupt etwas zu Tage gefördert wird ‒ so weiß man aus den vergangenen Sitzungen ‒ dann erst, nachdem die Zeugen der Koalition gehört wurden. Zeugen, an denen sich die Abgeordneten der CDU/CSU langwierig abarbeiten. Zeugen, die wiederholen, was bereits in Expertenanhörungen im Mai über die Aufnahme von Asylbewerbern gesagt wurde: 2015 war die Erfassung der Geflüchteten ineffektiv und fehlerträchtig. Fingerabdrücke wurden mit Tinte und Papier erfasst und erst so spät digitalisiert, dass eine deutschlandweite Abfrage gar nicht möglich war. Mehrfacherfassungen kamen vor, auch weil Sprachmittler eben keine ausgebildeten Dolmetscher sind und es keine einheitlichen Regeln für die Übersetzung vom arabischen ins lateinische Schriftbild gab.

Aktualität

Auch in dieser Sitzung erläutern Zeugin und Zeuge ihre Routineaufgaben im Jahr 2015. Alles problematisch. Alles bedauerlich. Alles kritikwürdig. Aber eben auch alles schon mehrfach durch Experten beschrieben und längst Teil des Allgemeinwissens. Nachzulesen in der Presse und in Ausschussakten und Gutachten der Landesausschüsse.

Zeuge Michael Wolter hat sich mit einem Rechtsbeistand aus Potsdam ausgestattet. Nötig wäre das nicht gewesen, denn seine Arbeit hat er unter den damals gegebenen Bedingungen vorbildlich erledigt. Ob des irregeleiteten Gesprächsbedarfs der CDU/CSU kann die Begleitung aber nicht schaden. Obleute der Regierungsfraktionen und der AfD fragen ungläubig, warum Sprachmittler nicht vermerken, wenn bei der Ersterfassung von Geflüchteten der gesprochene Dialekt Zweifel an der angegebenen Herkunft nahelegen.

Wolter beschreibt den Fragenden, unter denen sich Juristen und Verwaltungshochschuldozenten befinden, dass ein Sprachmittler, der in der Ersterfassung arbeitet, eben kein amtlich vereidigter Übersetzer ist, wie sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum Einsatz kommen. Für eine rechtsverbindliche Aussage sind Sprachmittler nicht hinreichend qualifiziert.

Seine Kollegin Jacqueline Wagner beschreibt, dass sie zu viele Fälle pro Tag bearbeiten musste und hätte gerne die notwendigen zwanzig Minuten Bearbeitungszeit pro Fall gehabt. Doch es musste schnell gehen. Als Sachkundige waren beide zudem sehr bald dafür zuständig, Hilfskräfte bei den Erfassungsprozessen anzuleiten.

Nun sitzen Wagner und Wolter vor dem Ausschuss, weil ihre Computeraccounts von eben diesen Hilfskräften mitbenutzt worden waren. Hilfskräfte, die teilweise auch aus dem Wachbataillon der Bundeswehr kamen, während sich an anderer Stelle in Deutschland ein offenbar rechtsradikaler Soldat unter die Asylantragstellenden mischte und wohl das Ziel verfolgte, einen Anschlag zu begehen, der dann den Geflüchteten untergeschoben werden sollte. Filmstoff, den sich niemand ausdenken kann.

Dienste schützen um jeden Preis

Aus gesundheitlichen Gründen war Verfassungsschutzzeuge Eric Rehnsdorf eine öffentliche Vernehmung nicht zuzumuten, heißt es. Ohnehin lohne sich eine auf zwei Stunden limitierte öffentliche Vernehmung ob der zu erwartenden langatmigen, oft plump durchgeführten CDU/CSU-Verzögerungsspielchen nicht.

Hinter verschlossenen Türen hörte der Ausschuss dann erneut den Zeugen Gilbert Siebertz und hofft auf eine zeitnahe Genesung von Rehnsdorf. Nach der nächsten Sitzung am 29.11.2018 blicken die Parlamentarier auf neun Monate Ausschussarbeit zurück und können einige wenige Erkenntnisse aus den Befragungen von Oppositionszeuginnen verzeichnen, dafür aber reichlich haarklein sezierte und dokumentierte Routinevorgänge deutschen Verwaltungshandelns. Aufklärung geht anders.

Parteiinteressen versus Aufklärung

Derweil hofft die AfD-Fraktion darauf, wieder einmal Stimmung gegen Kanzlerin Merkel machen zu können. Zu spät hätte man sich um die Digitalisierung gekümmert, die es erst 2016 möglich machte, Finger- und Handabdrücke zu erfassen. Die immer wieder ausgelegten Einladungen der AfD, doch mal richtig auf die Kanzlerin und die Willkommenskultur zu schimpfen, ignorieren die Behördenmitarbeiter_innen überwiegend und bleiben neutral.

Ordentlich Jagdtrieb legen Linke, Grüne und auch die FDP an den Tag, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Niema Movassat fragt noch pflichtschuldig nach eventuellen Kontakten zu Nachrichtendiensten, was jedoch verneint wird. In anderen Sitzungen bringt es Movassat aber auch schon einmal schnell auf den Punkt: „Wir haben keine Fragen in öffentlicher Sitzung.“

Das ist kein Desinteresse. Zu oft schon hatten die Zeugen der Koalition bereits nach 15 Minuten erschöpfend Auskunft erteilt, um daraufhin weitere 15 Minuten paraphrasierte Fragen zu beantworten und sich in der restlichen Zeit sichtlich zu wundern, warum sie immer noch befragt wurden. Schließlich hatten sie doch ihre Aussage bereits vor den Landesuntersuchungsausschüssen in NRW oder Berlin gemacht.

Die Vertreter der SPD tragen die schlecht getarnte Verzögerungstaktik der CDU/CSU mit und verzichten fast gänzlich auf die Jagd. Ein bisschen Empörung ob des Verfassungsschutzpräsidenten – Pflichtprogramm als Sidekick für die Partei, die hier den Ton angibt.

Fehlgeleiteter Unions-Elan

So leidenschaftlich und hartnäckig sich die Unionsparteien mit den Routinevorgängen befassen, so still sind sie, wenn es darum geht, über ihre Ausschussarbeit zu sprechen.

Eine proaktive Pressearbeit findet rund um den Ausschuss seitens der ansonsten umtriebigen CDU/CSU nicht statt. Rund 700 Pressemeldungen pumpte die CDU/CSU im Jahr 2018 bisher in die Postfächer der Abonnenten. Pressemeldungen zum Untersuchungsausschuss sucht man vergebens, seit dieser im März 2018 angekündigt wurde. Im Kontext „Untersuchungsausschuss“ gibt es auf der Presseseite der Union zwar reichlich Treffer, jedoch eben nur in Bezug auf den geforderten Ausschuss zum BAMF, der sich mittlerweile als Luftnummer aus dem rechtskonservativen Lager herausstellte.

Auch auf den Twitteraccounts der ansonsten mitteilungsfreudigen Unionsabgeordneten ist kaum etwas zu finden. Der Ausschussvorsitzende Armin Schuster nutzte das Thema im Oktober kurz, um dem mittlerweile Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen beizuspringen. Im September verteidigte Schuster den mittlerweile als Verschwörungstheorethiker enttarnten Maaßen noch anlässlich einer Untersuchungsausschusssitzung und forderte die anwesenden Journalist_innen zu „einem fairen Umgang“ auf.

Das Beharren auf der chronologischen Aufarbeitung aller Stationen des späteren Attentäters wird dafür sorgen, dass erst in einigen Monaten, vielleicht auch erst im Jahr 2020 das Geschehen am Anschlagstag im Ausschuss zum Thema wird. Ganz schön unfair, falls der immer wieder drohende Koalitionsbruch irgendwann zu Neuwahlen führt und damit der Untersuchungsausschuss enden würde.

 

10. Sitzung am 18. Oktober 2018 – Schrödingers Verfassungsschutz

Schrödingers Verfassungsschutz

Berlin ist immer eine Reise wert. Das wissen jetzt auch zwei weitere Zeugen, die wenig Erhellendes beitragen, während der Verfassungsschutzzeuge mauert

Kaum 45 Minuten brauchen die sechs Bundestagsfraktionen, um ihre Fragen an die beiden Zeugen aus der Landeserstaufnahmestelle für Geflüchtete in Ellwangen zu richten, die nach Berlin eingeladen wurden. Beide haben keine Erinnerung an den Attentäter, weil sie in den Jahren 2015 und 2016 in einem Massenverfahren täglich über mehrere Stunden Geflüchtete erfassten und die Erstaufnahmestelle mehr als das Doppelte der vorgesehenen Kapazitäten aufnehmen musste.

Alles nicht neu

Sowohl die Überbelegung der Erstaufnahmeeinrichtungen als auch die Herausforderungen bei der Erfassung der ankommenden Geflüchteten zählen seit der Expertenanhörung in der ersten öffentlichen Sitzung zum Allgemeinwissen des Ausschusses. Die von den Regierungsfraktionen gewünschte chronologische Vorgehensweise in der Aufarbeitung wird auch in Zukunft dafür sorgen, dass Zeugen ihre Aussagen wiederholen müssen, die sie bereits vor anderen Untersuchungsausschüssen abgegeben haben. Dabei könnten deren Erkenntnisse, so denn wirklich gebraucht, auch durch Beiziehung von Protokollen in den Bundestagsausschuss einfließen.

Andrea Hilpert-Voigt + Harald Bohn (Regierungspräsidium Stuttgart), Thilo Bork (BfV) am 18.10.2018

Mit dem Zeugen Thilo Bork beginnt der relevante Teil des Ausschusstages. Zuständig für die Beschaffung von Informationen zählt Bork mit den Zeugen Freimuth, Siebertz und C. M. (in geheimer Sitzung vernommen) zu den Personen, die im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) für islamistischen Terrorismus zuständig sind.

Show must go on

Bork trommelt fleißig für den Verfassungsschutz. Sein Eingangsstatement habe er selbst verfasst. Die Entscheidung dafür sei jedoch „ein Mix“ aus eigener Motivation und dem Zuraten seines Chefs und Borks Ehefrau gewesen. Was überwiegend klingt wie ein Wikipedia-Eintrag zum Verfassungsschutz und ganz auf der Linie vom designierten Ex-Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen ist, garniert Bork mit reichlich Street-Credibility.

Der angeblich 1970 geborene Bork sagt aus: „Ich habe angefangen in der Beschaffung, auch als Quellenführer. Das heißt, ich war auf der Straße. … Ich kann sagen, dass ich meine zu wissen, wovon ich spreche.“ Bork weiß um die Probleme, die sein Job mit sich bringt: „Selbst wenn man Leute kennenlernen will, schafft man es nicht immer, Leute auch kennenzulernen.“ Zeuge Bork ist sichtlich bemüht, die Erzählung aufrechtzuerhalten, der Verfassungsschutz habe mit dem Fall des Attentäters nichts zu tun gehabt.

In seinem Reden schwingt ein Unterton mit, dass ohnehin nur Verfassungsschützer wirklich verstehen, was Verfassungsschützer tun. Möglicherweise ist das die Erklärung dafür, warum Journalisten und Parlamentarier den Eindruck haben, es hätte rund um den Attentäter nur so von V-Leuten, Informanten und Quellen gewimmelt, die durch zahlreiche Behörden in die Fussilet-Moschee entsandt worden wären. Die Moschee ist einer von vielen „Hotspots“, die nach der Beschreibung von Bork immer wieder für einen kurzen Zeitraum in die Aufmerksamkeit von Behörden gerieten und dann wieder an Relevanz verlören.

Der Trommler vom Verfassungsschutz

Bork will die Definitionshoheit des BfV erhalten. „Wir haben eine andere Definition des nachrichtendienstlichen Umfeldbegriffs“, reizt Bork die Geduld des Grünenparlamentariers Konstantin von Notz. „Wahrscheinlich waren eben doch fünf Leute im direkten Umfeld von Amri in der Fussilet-Moschee. … aber Sie sagen jeden Tag in jede Kamera, es sei niemand dran gewesen“, kritisiert von Notz die Verfassungsschutzerzählung.

Dabei ist zunächst einmal nachvollziehbar, was Verfassungsschutzmann Bork beschreibt. Ein Attentäter, der im Geheimen vorgeht, wird nicht unbedingt viel Wert auf einen großen Freundeskreis legen und sich bereitwillig mit immer neuen Menschen treffen. Unglaubwürdig wird das Handeln des Verfassungsschutzes und anderer Behörden aber spätestens am 15. Juni 2016, als der spätere Attentäter aus der Observation genommen wurde und dennoch bis zum November 2016 immer wieder auf den Tagesordnungen des gemeinsamen Terrorabwehrzentrums GTAZ stand.

Behördenübergreifend war der Attentäter insgesamt elf Mal auf den Tagesordnungen. Wo die Fakten stören, braucht es eine neue Sprache. „Im Umfeld von Amri waren wir nicht vertreten“, sagt Zeuge Bork aus und meint wohl das nachrichtendienstliche Umfeld. Im allgemeinsprachlichen Verständnis von „Umfeld“, das Parlamentarier und Öffentlichkeit pflegen, gab es mindestens Kontakte zu einer Mitfahrgelegenheit und einem Wohnungsgeber. Es gab Hinweise von ausländischen Nachrichtendiensten zur Person des späteren Attentäters. Und es darf davon ausgegangen werden, dass Quellen des Verfassungsschutzes und der Polizeien, die den Attentäter später auf Lichtbildvorlagen erkannten, auch in den Moscheen zugegen waren, in denen der Attentäter ein und aus ging.

Ziemlich viel, was auf der Umfeldliste zusammenkommt. Und da hilft der Begriff des „nachrichtendienstlichen Umfeldes“ schon sehr, wenn das Adjektiv „nachrichtendienstlich“ die Bedeutung des Wortes „Umfeld“ nötigenfalls ins Gegenteil verkehren kann. Ein Paradoxon, das von der Beteiligung des Verfassungsschutzes ablenken soll, der unter keinen Umständen verantwortlich dafür sein will, dass es trotz aller Beobachtungs- und Analysemaßnahmen immer ein Restrisiko gibt, dass ein Attentäter so geheim agiert, dass er den Behörden entgeht.

Verheerendes Bild

Einen Fehler einzugestehen, scheint unmöglich. Doch statt sich nun bedeckt zu halten, lässt Zeuge Bork keine Gelegenheit ungenutzt, Angst zu verbreiten. Man hätte es damals mit einer mittleren dreistelligen Zahl an Gefährdern zu tun gehabt, die ähnlich problematisch gewesen wären wie der Attentäter. Während sich die Zuhörenden unweigerlich ausmalen, was der Effekt wäre, würden alle diese potentiellen Attentäter so handeln, wie es am Breitscheidplatz geschah, schrumpft die im Raum stehende Zahl.

Als Obleute nachhaken, wie viele der Gefährder denn potentielle Attentäter seien, spricht Zeuge Bork von einem zweistelligen Bereich bis hin zu dem Eingeständnis, eigentlich keine genaue Zahl nennen zu können. „Ein verheerendes Bild, das vom Verfassungsschutz dadurch in der Öffentlichkeit entsteht“, resümiert Konstantin von Notz.

9. Sitzung am 11. Oktober 2018 – Über Schwarzfahrer und ein U-Boot

Über Schwarzfahrer und ein U-Boot

Parlamentarier besprechen langwierig ein Routineverfahren, während der Aufreger dieser Woche hinter verschlossenen Türen behandelt wird

 

Bastian Kioschis (Staatsanwaltschaft Offenburg)

Kaum 40 Minuten dauerte die Vernehmung eines Staatsanwaltes, der eine Schwarzfahrt des späteren Attentäters vom Breitscheidplatz nicht weiterverfolgte. Aufgrund des vorliegenden Namens und der bis dato sauberen Weste gab es keine Ansatzpunkte für eine Strafverfolgung.

Da sich der Untersuchungsausschuss mehrheitlich darauf geeinigt hatte, die Vorgänge zwischen der Ankunft des späteren Attentäters und dem 19. Dezember 2016 chronologisch aufzuarbeiten, reiste der 1. Staatsanwalt Bastian Kioschis eigens aus Offenburg an. Die Faszination für einen juristischen Routinevorgang hält sich jedoch in Grenzen. Noch während der ersten Fragerunde winkt Niema Movassat mit einem freundlichen „Guten Tag Herr Kioschis. Wir von der Linksfraktion haben keine weiteren Fragen an Sie“ ab.

Linke und Grüne kritisieren die chronologische Aufarbeitung, die durch die Ausschussmehrheit von CDU/CSU und SPD als Rahmen gesetzt wird. Auf der Liste der weniger relevanten Zeugen standen bereits der Polizist, bei dem der spätere Attentäter Asyl beantragte, ein Staatsanwalt, der ein Routineverfahren wegen illegaler Einreise führte, sowie nun Kioschis, der selbstbewusst und souverän auftritt, sich aber der nachrangigen Bedeutung bewusst ist.

Ein zweiter Zeuge, der ins Visier der Obleute von CDU/CSU geriet, kann heute aufgrund einer Erkrankung nicht aussagen. Bahnbrechende Informationen seien vom ihm, dem Leiter der Erstaufnahmeeinrichtung, ohnehin nicht zu erwarten, da er nach Aussagen der Oppositionsvertreter lediglich erklären würde, dass der spätere Attentäter niemals in der Erstaufnahmeeinrichtung in Karlsruhe aufgetaucht wäre.

U-Boot auf Schwarzfahrt

Medienberichte der Zeitung „Welt“ brachten in der vergangenen Woche eine „Schwarzfahrt“ der besonderen Art ans Tageslicht. Die Vertreterin des Bundesinnenministeriums Frau Dr. Haarmann hatte dem Untersuchungsausschuss verschwiegen, dass sie im Untersuchungszeitraum im Bundesamt für Verfassungsschutz eingesetzt war. Im Rahmen ihrer Aufgaben behandelte sie bis ins Jahr 2016 Fälle aus dem direkten Umfeld des späteren Attentäters und beobachtete Personen wie dessen Wohnungsgeber in Berlin und einen Kontakt zu einer Moschee in Dortmund.

Haarmann hatte in ihrer Funktion nicht nur Zugang zu allen Akten des Untersuchungsausschusses, sondern bearbeitete auch schon kurz nach dem Attentat parlamentarische Anfragen zum Fall. In öffentlichen Sitzungen intervenierte sie während der Aussagen von Mitarbeitern des Bundesamtes für Verfassungsschutz und wollte selbst die Nennung von Personennamen nicht zulassen, die längst presseöffentlich durch Gerichtsverfahren bekannt waren.

Über einen Zeitraum von gut sechs Monaten nahm Haarmann an Beratungssitzungen teil, in denen die Obleute über den weiteren Ablauf der Ermittlungen sprachen, und begleitete auch die nicht-öffentlichen Zeugenvernehmungen.

Obwohl die Empörung über diesen Vertrauensbruch fraktionsübergreifend einhellig ist, fallen die Reaktionen der Parlamentarier_innen unterschiedlich aus. Während der Ausschussvorsitzende Armin Schuster (CDU/CSU) keine Einschränkungen für die Ausschussarbeit erkannt haben will, findet Martina Renner (Linksfraktion) deutlichere Worte: „Der Vorwurf ist nicht nur, dass man die Zeugeneigenschaft von Frau H. gegenüber dem Ausschuss absichtlich verschwiegen hat, sondern auch, dass die Zeugin H. ihre Rolle in diesem Ausschuss dazu genutzt hat, andere Zeugen und Zeuginnen zu beeinflussen, bestimmte Komplexe, Personen oder Themen nicht dem Ausschuss zu offenbaren.“

Sabotage des Ausschusses

Der Vorwurf steht im Raum, dass das Bundesinnenministerium den Ausschuss in seiner Arbeit behindert. Zum Rapport in nicht-öffentlicher Sitzung erschien der Leiter der Abteilung Öffentliche Sicherheit im Bundesinnenministerium Stefan Kaller. „Uns trat das Ministerium mit einer Mischung aus Arroganz, Ignoranz und Respektlosigkeit entgegen. Ein Problembewusstsein war in keiner Weise erkennbar“, beschreibt Fritz Felgentreu (SPD) das Auftreten von Kaller.

Am Rande werden Vorwürfe laut, Obleute hätten den Namen von Dr. Haarmann öffentlich genannt und damit Schutzinteressen verletzt. Ein Name, der in öffentlichen Sitzungen auf einem Namensschild gut leserlich platziert war, während Haarmann in einer Funktion dort saß, die in vergleichbaren Ausschüssen erwartbar Gegenstand der Berichterstattung von Journalisten werden kann. Selbst wenn es ein legitimes Schutzinteresse für Haarmann gibt, ist es nach sechs Monaten öffentlicher Ausschussarbeit naiv, davon auszugehen, es würde ausreichen, künftig nur von „Frau Dr. H.“ zu sprechen.

Für die Ermittlungsarbeit der Parlamentarier bedeutet die Personalie der H. ein zusätzliches Pensum an Arbeit. Aussagen müssen erneut kritisch gelesen werden. An welchen Punkten intervenierte H. bei Zeugenaussagen? Welche Unterlagen zum Fall des Attentäters haben Schnittmengen mit den von H. bearbeiteten Fällen?

Arbeitserschwernisse, bei denen Martina Renner notfalls zu drastischen Mitteln greifen will, die über die Vereidigung von Zeuginnen und Zeugen hinausgehen. Renner zieht Mittel in Betracht, die bei einem Untersuchungsausschuss in den 1960ern zur Anwendung kamen: „Damals haben eine sehr selbstbewusste Opposition mit auch sehr selbstbewussten Parlamentariern der Regierungsparteien gemeinsam die Entscheidung getroffen, die Bundesregierung von einem Teil der Beweisaufnahme auszuschließen.“ Renner führt aus, dass es keinen Rechtsanspruch der Bundesregierung gibt, bei der Beweisaufnahme zugegen zu sein.

Aufklärung geht anders

Mit der Personalie H., die von einer Position der Exekutive aus in die Arbeit der Legislative wirkte und dort theoretisch auch die Möglichkeit hatte, eventuelle Versäumnisse zu kaschieren, stellte das Bundesinnenministerium nicht nur die Gewaltenteilung auf eine harte Probe. Auch in den Reihen der Opfer und Hinterbliebenen des Attentats herrscht über die aktuellen Entwicklungen im Ausschuss Unmut.

Bei einem Gespräch mit Bundeskanzlerin Merkel, die Aufklärung versprochen hat, drängten sie darauf, dass den Untersuchungsausschüssen ungeschwärzte Akten zur Verfügung gestellt werden. Die chronologische Vorgehensweise des Ausschusses wird dafür sorgen, dass die Aufarbeitung der Erlebnisse noch Jahre andauert. „Ich will wissen, was rund um den 19.12.2016 passiert ist und nicht, wann der Attentäter mal schwarzgefahren ist“, bringt es eine Hinterbliebene auf den Punkt.

8. Sitzung am 27. September 2018 – Semantisches Schmierentheater

Semantisches Schmierentheater

Untersuchungsausschuss Heute hüh, morgen hott! Was zunächst als offener Widerspruch gegenüber Hans-Georg Maaßen galt, wird nun revidiert. Der Verfassungsschutz rudert zurück

Gilbert Sibertz vom Bundesamt für Verfassungsschutz

Heute hüh, morgen hott … Was in der vergangenen Sitzung noch als offener Widerspruch gegenüber dem Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen galt, wurde in der Sitzung vom 27. September 2018 durch einen Vorgesetzten revidiert. Der Verfassungsschutz rudert zurück.

Das vom Verfassungsschutz für seine Mitarbeiterin gewählte Pseudonym „Freimuth“ ordnet Wikipedia als bei Schriftstellern beliebt ein, „die damit signalisierten, dass der Inhalt ihrer Veröffentlichung um seiner Offenheit willen nur unter Pseudonym veröffentlicht werden könne.“

Während der Aussage von Lia Freimuth wurde klar, dass sie im offenen Widerspruch zu jenem Narrativ steht, das vom Noch-Behördenleiter Hans-Georg Maaßen so sorgsam verbreitet wurde.

Zwei Wochen später steht ihre Aussage im Widerspruch zu einem weiteren Vorgesetzten: Zeuge Gilbert Siebertz ist Islamwissenschaftler und leitender Regierungsdirektor. Sein Dienstposten ist zwei Verantwortungsebenen höher angesiedelt als der von Lia Freimuth. Getreu dem vertrauten Motto einer jeden Hierarchie – „Ober sticht Unter“ – rückt Siebertz die Aussage seiner Mitarbeiterin nun ins rechte Licht.

 

Fachkompetenz im Arbeitsbereich

Wie nah er noch an konkreten Themen rund um den Islamismus arbeitet, lässt sich angesichts seiner Führungsverantwortung für fünf Referate mit untergeordneten Referatsleitern und Referentinnen wie Lia Freimuth nur schwierig herausfinden. In seiner Funktion war Siebertz zwar an der Beantwortung mehrerer kleiner Anfragen des Bundestages rund um den Themenkomplex beteiligt, schaffte es aber in keine der elf Sitzungen im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ), in denen der Attentäter im Jahr 2016 vor dem Anschlag ein Thema war.

Obgleich seine Mitarbeiterin beschrieb, dass es eine Personenakte zum Attentäter gegeben hätte, dieser auch in mehreren Sachakten vorgekommen und mehrfach im Beisein der Kriminalämter und der Verfassungsschützer ein Thema im GTAZ gewesen wäre, äußert Siebertz gegenüber dem Ausschussvorsitzenden Armin Schuster (CDU/CSU):

Siebertz: „Nein, wir haben ihn nicht nachrichtendienstlich überwacht.“
Schuster: „Haben Sie nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt?“
Siebertz: „Das kommt auf die Definition an. … Wir haben V-Leute in Betracht gezogen.“

Im vermeintlichen Umfeld des späteren Attentäters wurden im Februar und März 2016 sogenannte Lichtbildvorlagen gezeigt. Ein Vorhalt ohne Nennung eines Namens oder eines konkreten Verdachts. Jedenfalls formal, wenn man davon absieht, dass es sich bei den fragenden Personen um Verfassungsschützer und bei den gefragten um Menschen muslimischen Glaubens handelt. Die so angesprochenen Quellen vermochten sich erst nach dem Attentat an die Person des Attentäters zu erinnern.

Für Zeuge Siebertz sind all diese Maßnahmen aber kein Grund, an der Aussage seines Amtschefs zu rütteln, und auch er gibt an, der Attentäter wäre ein „reiner Polizeifall“ gewesen und die Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden im GTAZ sei gut.

 

Semantische Haarspaltereien

Dass in der Öffentlichkeit durch den Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) der Eindruck entstanden sei, es hätte sich um einen „reinen Polizeifall“ gehandelt, bezeichnet er als missverständlich formuliert. Schließlich kämen bei einer nachrichtendienstlichen Beobachtung nicht zwingend auch ,nachrichtendienstliche Mittel“ zum Einsatz.

„Missverständlich, aber nicht falsch“ wären auch wohl die Antworten auf kleine Anfragen gewesen, gibt der Beamte zu Protokoll, während im Saal die Lust auf semantische Haarspaltereien längst vergangen ist. Auf die direkte Frage „Wie viele V-Leute hatten Sie in der Fussilet-Moschee, die nicht mit dem Auftrag da rein sind, aber mit dem Attentäter Kontakt hatten?“ erhält der Ausschussvorsitzende Armin Schuster den Platzverweis vom Innenministerium: „Nur in geheimer Sitzung.“

Für die Zuschauenden bleibt die Frage, wann die Behördenleitung des BfV Sprach- und Semantikkurse erhält, damit ihre Antworten und Meldungen nicht wiederholt so „missverständlich, aber nicht falsch“ in die Öffentlichkeit gelangen.

Für weitere Erläuterungen ihrer Zeugenaussage hoffen die Ausschussmitglieder der Grünen und der Linksfraktion nun auf eine baldige Genesung der Zeugin Lia Freimuth, die aus gesundheitlichen Gründen heute nicht erneut befragt werden konnte.

Neben Siebertz wurde an diesem Tag erneut in geheimer Sitzung der Sonderbeauftragte des Landes Berlin Bruno Jost gehört, sowie ein weiterer Zeuge des BfV, der als V-Mann-Führer eingesetzt war.

7. Sitzung am 13. September 2018 – Mehr Aufklärung bitte!

Es darf getrost als leidiges Spiel der Bundesregierung bezeichnet werden: Auch im Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatzattentat werden wieder alle Register gezogen, um die Aufklärung zu verschleppen. Eine Strategie, die vor allem an den Nerven von Opfern und Hinterbliebenen zerrt.

Der Sitzungsstart nach der Sommerpause wirkt enthusiastisch. Der FDP-Obmann Benjamin Strasser verkündet via Pressemitteilung:

„Der Beschluss des BGH [Bundesgerichtshof] ist eine schallende Ohrfeige für die Bundesregierung und die Regierungsfraktionen im Ausschuss. Umfassende Aufklärung kann nur mit einem umfassenden Aktenbestand erfolgen. Das Mauern der Regierung ist bereits beim ersten Versuch krachend gescheitert! Es kann nicht Aufgabe der Opposition sein, sich jeden Zeugen und jede Akte vor einem Gericht erstreiten zu müssen.“

Gemeinsam mit Grünen und Linken hatte die FDP vor dem BGH geklagt. Sie wollen Zugang zu den Informationen beim Bundesnachrichtendienst (BND) und beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), die den Attentäter betreffen. Ein Täter, der sich nicht nur in Deutschland über alle Ländergrenzen hinweg bewegte und damit die föderalen Strukturen narrte, sondern auch international den Ermittlern und Geheimdiensten – so wirkt es im Nachhinein – scheinbar wie ein Stück Seife immer wieder entglitt.

Eher heiße Kartoffel als glitschige Seife

Nach der Erklärung, warum jedwede nationale und internationale Kooperation zwischen Geheimdiensten und Polizeien scheiterte, der Datenaustausch nicht zeitgerecht klappte und am Ende zwölf Menschen das Leben verloren sowie mindestens 147 Menschen seelische und körperliche Verletzungen davon trugen, sucht der Ausschuss seit April. Schon in den ersten Sitzungen wurde deutlich, dass der Attentäter wohl eher mit einer heißen Kartoffel zu vergleichen ist, die niemand lange in der Hand behalten wollte.

Hans-Georg Maaßen war die Kartoffel offenbar deutlich zu heiß. Im Abschlussbericht des Sonderbeauftragten Bruno Jost, der für den Berliner Senat das Handeln der Berliner Behörden, z. B. des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), untersuchte, heißt es:

„Soweit aus den hier vorliegenden Akten ersichtlich, spielten die deutschen Nachrichtendienste (hier BfV, LfV Berlin und BND) sowohl im Vorfeld des Anschlags vom 19.12.2016 als auch bei der Aufklärung und Aufarbeitung des Verbrechens eine bemerkenswert bedeutungslose Rolle.“

Eine Rolle, die der Sonderbeauftragte hinterfragte und daraufhin eine eindeutige Aussage erhielt:

„Das BfV hat hierzu auf meine Anfrage vom 10.5.2017 am 17.5.2017 mitgeteilt, es habe vor dem Anschlag keine eigenen Informationen zu AMRI besessen und auch keine eigene Informationsbeschaffung zu AMRI betrieben.“

Einsturz des Lügengebäudes

Seit der Presseberichterstattung über einen möglichen V-Mann im direkten Umfeld des Attentäters bröckelt das Bild von einem desaströsen Polizeieinsatz, das von Maaßen prominent befeuert wurde. „Wir hatten es hier mit einem reinen Polizeifall zu tun, der in den zuständigen Bundesländern bearbeitet wurde“, zitiert die Berliner Zeitung den Verfassungsschutzchef aus März 2017 und weiß auch um Maaßens weitere Äußerungen im Dezember 2017, die in die gleiche Richtung gehen.

Auch andere Bundesbehörden wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wirken der Aufklärung entgegen. Zeugen und Kontakte aus dem Umfeld des Attentäters gehen verloren. „Gefährder kann wegen Abschiebung nicht befragt werden“, berichtet rbb24 Ende Juli 2018 aus dem Untersuchungsausschuss des Berliner Senats.

Wie muss das auf die Opfer und Hinterbliebenen des Attentats wirken? Ihnen versprach Bundeskanzlerin Angela Merkel schon am Morgen nach der Tat: „Sie wird aufgeklärt werden – in jedem Detail, und sie wird bestraft werden, so hart es unsere Gesetze verlangen.“?

Maaßen wird unhaltbar

Nach der Aussage der BfV-Analystin Lia Freimuth vor dem Untersuchungsausschuss könnte der Widerspruch nicht größer sein. Nach einigem Lavieren um die Aussagegenehmigung wird klar, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht nur schon wenige Monate nach der Ankunft von Amri in Deutschland begonnen hatte, eine Personenakte zu führen, sondern auch, dass nachrichtendienstliche Mittel zum Einsatz kamen.

Der spätere Attentäter sei mit mehreren Gefährdern vernetzt gewesen, die alle im Zuständigkeitsbereich der Bearbeiterin lagen. Mehr ist in der öffentlichen Sitzung nicht in Erfahrung zu bringen.

Die Aussage macht deutlich: Maaßen hätte mit einem frühzeitigen Eingeständnis der Kenntnisse über das Netzwerk auch die Abschiebung von Zeugen verhindern können.

Für keine Peinlichkeit zu schade

Unter den Augen von Angehörigen und Opfern des Breitscheidplatzattentates halten sich die Obleute und Parlamentarier der Kanzlerinnenpartei ausgiebigst mit Details der Ankunft des Attentäters in Deutschland auf. Ein Zeuge vom Polizeirevier Freiburg-Nord wird befragt, dessen Bedeutung für diesen Fall ebenso nachrangig ist wie die des Oberamtsanwalts aus Freiburg, der ein Standardverfahren abzuarbeiten hatte, das gegen jeden Asylbewerber angestrengt wird.

Wenig relevante Informationen erarbeiten und kein Fehlverhalten eingestehen – das scheint die Devise derjenigen zu sein, die der Regierung nahestehen. Behördenvertreter wie auch Parlamentarier der CDU/CSU. All das unter peinlich berührter Duldung durch den Koalitionspartner SPD, der auch in diesem Ausschuss wieder einmal nicht anders kann, als die CDU/CSU irgendwie gewähren zu lassen, zugleich aber nicht allzu abhängig aussehen will.

Als Beschäftigungstherapie für die Oppositionsparteien dürften die weiteren nötigen Klagen einzuordnen sein. Als Novum bezeichnet Martina Renner von der Linksfraktion die Verweigerung, einen V-Mann-Führer und Referatsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz laden zu dürfen.

Auch um die Aktenlage ist es nicht gut bestellt. Während der Sitzung arbeitete Konstantin von Notz in einem öffentlichen Disput mit dem Innenministerium heraus, dass wesentliche Akten – darunter auch die Personenakte des Attentäters, die im BfV geführt wurde – nicht zugeliefert wurden. Zeugen scheinen, wie auch in anderen Untersuchungsausschüssen, weiterhin in der Lage zu sein, sich umfangreich mit ungeschwärztem Aktenmaterial auf ihre Vernehmung vorzubereiten, das Abgeordneten, Obleuten und Ausschussmitarbeitern nicht einmal in umfassend geschwärzten Versionen vorliegt.

Respekt vor den Opfern fehlt

In einem offenen Brief bitten seit dieser Woche die Hinterbliebenen des Terroranschlages die Länder- und Bundesbehörden darum, „im Sinne einer umfassenden Aufklärung zusammen zu arbeiten“.

Der Behördenchef des BfV steht nach wie vor an die Spitze einer Desinformationskampagne, die alle Verantwortung den Länderpolizeien zuschiebt, statt im Sinne einer zeitgemäßen Fehlerkultur einzugestehen, dass es Fehleinschätzungen oder Informationsdefizite gegeben hat.

Stattdessen hätte Maaßen den Geheimdienstgremien, Innenausschüssen und Sonderermittlern auch Fakten liefern können, die begründen, warum eine Geheimhaltung weiterhin zwingend erforderlich ist. Doch Maaßen bevorzugt Lügen. Unter diesen Voraussetzungen kann die Kanzlerin ihr Versprechen nicht einlösen.

5. Sitzung am 14. Juni 2018 – Terror Plangemäß verwalten

Terror plangemäß verwalten

Untersuchungsausschuss Während die CDU/CSU mit internen Querelen den Parlamentsbetrieb blockierten, warteten Opfer und Angehörige des Attentats vom Breitscheidplatz auf den Sitzungsbeginn.

Eine Handvoll Journalisten wartet gemeinsam mit Opfern und Angehörigen im Bundestag. „Sitzungsbeginn 12 Uhr“ – das Display vor dem Saal 4.900 im Paul-Löbe-Haus liegt sehr oft falsch, wenn es darum geht, den Sitzungsbeginn kundzutun. Mal verlängert sich eine Beratungssitzung. Mal sorgt eine namentliche Abstimmung für einen verspäteten Beginn. Heute ist es die CDU/CSU-Fraktion. Offenbar haben sich Teile der CSU dazu entschlossen, den Koalitionsvertrag aggressiv nachverhandeln zu wollen. Man spricht von Asylstreit und setzt bildlich gesprochen Angela Merkel die Waffe auf die Brust: „Entweder du tust, was wir wollen, oder wir machen, was wir wollen.“ Ob, wann und wie dieser Schuss für die CSU nach hinten losgeht, werden die nächsten Tage zeigen.

Arbeitspläne

Der Ausschussvorsitzende Armin Schuster (CDU/CSU) erhält kurz vor Sitzungsbeginn von einem Überlebenden und Ersthelfer eine schriftliche Aussage, die Beamte des BKA bereits vor über einem Jahr entgegennahmen. Passiert ist seither nichts. Der Mann will Aufklärung und wartet seit nun fünf Stunden geduldig auf den Sitzungsbeginn. Politik und Behörden indes haben Zeit.

Ausschuss ist das, was passiert, während die Tagesordnung etwas anderes sagt. Von den insgesamt vier Zeugen bleiben an diesem Tag nur noch zwei. Zeuge Gilbert Siebertz vom Bundesamt für Verfassungsschutz wurde schon lange vor den CDU/CSU-Querelen aus Zeitgründen von der Liste gestrichen. Die Tagesordnung war mit vier Zeugen deutlich zu ambitioniert. Von Siebertz erhofften sich die Abgeordneten Hinweise auf V-Leute im Umfeld des Attentäters. Da es um eine Geheimdienstangelegenheit geht, sperren sich die zuständigen Stellen im Kanzleramt und bei den Geheimdiensten jedoch gegen die Herausgabe von Akten. Zudem dürften Zeugen aus den verantwortlichen Behörden auch in diesem Ausschuss wieder über strikt formulierte Aussagegenehmigungen an der kurzen Leine gehalten werden.

Axel Kühn (BKA/Staatsschutz)

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