Ein Sitzungstag aus den Fugen. Der Halbsatz eines BKA-Beamten der Regierungsbank lässt tief blicken. Wie viele Beweise wurden übersehen?
Ein Tag im Untersuchungsausschuss nimmt gern einmal eine unvorhersehbare Wende. An diesem Donnerstag ausgelöst durch einen Halbsatz eines BKA-Beamten, der durchblicken lässt, dass eines der Videos aus den rund 100 Terrabyte an Daten neu bewertet wird.
Fast
drei Jahre nach dem Anschlag wurde erst vor wenigen Tagen ein Zeuge
vernommen, der das Video hochgeladen hatte. Es zeigt, so ist aus
Ausschusskreisen zu vernehmen, einen heftigen Streit in unmittelbarer
Nähe des LKW. Zu den Beteiligten gehört ein Mann, der zunächst als
Besucher und Ersthelfer am Breitscheidplatz gewesen war und seitdem
durch bislang nicht näher bestimmbare Gewalteinwirkung auf den Kopf im
Koma liegt. Mutmaßlich – so verbreitete es Focus-Online bereits im
Februar unbelegt – traf der Mann auf einen oder mehrere Komplizen des
Attentäters.
Viel Spannung – wenig Belang
Der Ausschuss dehnt zunächst die nicht-öffentliche Sitzung aus und will
noch am selben Tag eine Klärung des Sachverhaltes erreichen. Warum
wurde das Video neu bewertet? Warum wurde der Zeuge, der das Video
hochlud, erst so spät vernommen? Mit dem Abstand von fast drei Jahren
sind die Erkenntnisse erwartbar dünn. Nach mehreren Stunden Verzögerung
erhält das BKA dank der Stimmen der Regierungsparteien nun einige Wochen
Zeit für die Suche nach einer Antwort, was von den eigenen
Ermittlungsergebnissen zu halten ist.
Für die Opposition ist
klar: Die detailreiche Nacherzählung des Tatgeschehens trägt nur
oberflächlich zur Aufklärung bei. Videos, die die Einzeltäterthese ad
absurdum führen, sind mittlerweile nur noch ein Beleg für die
nachlässige Ermittlungsarbeit. Wichtiger ist der Aspekt, inwieweit der
Attentäter in islamistische Strukturen eingebunden war. Doch in diesem
Bereich lassen wichtige Aktenvorlagen weiterhin auf sich warten.
LKA NRW: Herr Z. und Herr E.
Kriminalhauptkommissar Z. war zwischen November 2015 und Ende Mai 2016 in der Ermittlungskommission EK Ventum eingesetzt. In seiner Aussage beschreibt Z., was für den Kontakt des späteren Attentäters zu islamistischen Netzwerken spricht. Durch die technische Überwachung seiner Kommunikationswege war der spätere Attentäter Nachrichtenmittler, ohne es zu wissen. Sein regelmäßiger Kontakt zur Vertrauensperson VP01 brachte Erkenntnisse, die im Verfahren gegen den Salafistenprediger Abu Walaa zum Einsatz kamen.
Herr Z. erwähnt, dass das LKA NRW die Gefährlichkeit des späteren Attentäters zwar vor Augen hatte, aber nicht handeln konnte, weil es an schwerwiegenden Straftatbeständen mangelte. Die Überwachung von dessen Kommunikation beschreibt der Kriminalhauptkommissar ausführlich. Chatgruppen wurden ausgewertet und Kontakte zu libyschen IS-Kämpfern dokumentiert. Als sich in der Kommunikation andeutete, dass Anschlagsplanungen in die Praxis umgesetzt werden sollten, versuchte Z. die Abschiebung über einen Duisburger Staatsanwalt auf den Weg zu bringen. Das Verfahren wurde jedoch im weiteren Verlauf aus dem Bundesinnenministerium wieder gestoppt.
Überfordert
Im Verlauf der Aussage wird deutlich, dass das LKA NRW mit dem hochmobilen Gefährder an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit kam. Eine Landesbehörde hat nur beschränkten Zugriff auf die Polizeidaten aus anderen Bundesländern und ist daher als federführende Behörde ungeeignet. Dennoch führte die engagierte Arbeit der LKA-NRW-Beamten – nach mehreren erfolglosen Anläufen – zum Eintrag des späteren Attentäters in die gemeinsam genutzte Anti-Terrordatei.
Die Art und der Umfang der in der Aussage des Landesbeamten Z. aufgezeigten internationalen Bezüge des späteren Attentäters legen nahe, dass auch
inländische und ausländische Geheimdienste an dem Fall gearbeitet haben
müssen. Es bleibt unverständlich, warum im GTAZ – dem
länderübergreifenden gemeinsamen Terrorabwehrzentrum, dem auch Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst angehören
– keine Federführung auf Bundesebene vereinbart wurde. Fragen, die
irgendwann auch der ehemalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière
beantworten muss, dessen Ministerium nach dem Attentat massiv an der Abschiebung aller Personen aus dem bekannten Umfeld des Attentäters arbeitete.
Anonymität wahrenHerr Z. bleibt namenlos, obgleich er unter vollem Namen bereits in mehreren Verfahren zu ähnlichen Themenkomplexen öffentlich aussagte. Martina Renner (Linksfraktion) wundert sich über die vorgebrachten Gründe für die Anonymisierung, die an anderer Stelle bisher als unnötig erachtet worden war.
„Irgend so ein Blogger“ sei laut Herrn Z. schuld
daran, dass der Name seines Kollegen, Kriminaloberkommissar E., im
Internet zu lesen sei. Der volle Name des Zeugen E. war in einer der
vergangenen Sitzungen durch einen Krefelder Kollegen des polizeilichen
Staatsschutzes öffentlich genannt worden. Gründe für eine Anonymisierung
wurden in beiden Sitzungen nicht geliefert.
Ohnehin: Die öffentliche Nennung eines Namens lässt sich nicht rückgängig machen. Das LKA NRW verhält sich im Umgang mit den Klarnamen seiner Beamten, als nehme es zum ersten Mal an einem Untersuchungsausschuss teil. Eine klare Taktik scheint es nicht zu geben.
Der Experte
Der von der Namensnennung betroffene Kriminalkommissar E. äußerte sich selbst nicht dazu. Er wirkt vor dem Ausschuss an diesem Abend betont lässig, cool sowie mitunter vorlaut. Seine Karriere beim LKA NRW kann als steil bezeichnet werden. Schon früh interessierte er sich aus eigenem Antrieb heraus für die Islamistenszene.
Seine vorgebliche Technikaffinität reicht jedoch
nur bis zur Auswertung offener Internetquellen. Technische Maßnahmen,
um Handychats in Echtzeit oder im Nachhinein auswerten zu können, überlässt er den Kollegen.
Der Kriminaloberkommissar gibt sich selbstsicher und urteilsstark, zugleich emotional
distanziert. Mit seinem Abzug von einem Themengebiet sieht er sich
nicht mehr als Teil des Falls an. Trotzdem äußert E., dass er am Abend
des Attentats gleich die Vermutung hatte, es könne sich beim Attentäter um die Person handeln, die er bereits länger überwacht hatte.
Seltsam unbeteiligt wirkt Herr E. indes, als er den Zeitpunkt eingrenzt, zu dem er sicher gewusst hätte, wer der Attentäter war, ohne aber Auskunft darüber zu geben, von wem die Information stammte. Schon in den frühen Morgenstunden nach dem Attentat – etwa einen halben Tag vor dem Fund des Mobiltelefons und der öffentlichen Bekanntgabe des Namens – will Herr E. über die Person des Attentäters informiert gewesen sein.
Fragwürdiger Anruf
Der 39-jährige Herr E. wurde dem Ausschuss bereits im März 2019 bekannt. Damals sagte der Krefelder Ermittler Herr B. aus, er hätte einen Anruf erhalten, in dem E. deutlichen Druck ausgeübt hätte,
die Ermittlungen gegen den späteren Attentäter wegen anderer Delikte
fallen zu lassen. Aus dem Sitzungsprotokoll tragen die Obleute die
Passage mehrfach vor.
Es erinnert an eine Szene aus einem Hollywoodfilm: Eine übergeordnete Behörde untersagt einem engagierten Polizisten die Arbeit, weil es um höhere Interessen geht. Für Herrn E., der nach mehrmaliger Nachfrage zusehends genervter reagiert, hat ein solcher Anruf nicht stattgefunden. Nicht zu besagtem Zeitpunkt, nicht mit besagtem Inhalt.
Ganz abwegig ist ein solcher Eingriff aber nicht, denn schon wenig später bestätigt Zeuge E. gegenüber Benjamin Strasser (FDP), dass es Behördenzeugnisse gegeben hat. Zwei oder drei seien es gewesen – so genau kann sich Herr E. nun nicht mehr erinnern. Auf die Nachfragen von Konstantin von Notz (B90/Grüne) hin präzisiert Zeuge E. dann, dass ein Behördenzeugnis vom Bundesamt für Verfassungsschutz gekommen wäre.
Den
Ersteller des zweiten Behördenzeugnisses kann E., der sonst erkennbar
viel Wert auf Hierarchien und Zuständigkeiten legt, nicht mehr benennen.
Der Inhalt hingegen ist ihm noch geläufig. Es hätte Informationen des
marokkanischen und libanesischen Geheimdienstes enthalten.
Mit
Behördenzeugnissen entbinden Behörden einander von der Weitergabe von
Informationen zu den darin genannten Personen, um Ermittlungen in
anderen Zuständigkeitsbereichen nicht zu gefährden. Faktisch führt dies
auch dazu, dass eine Strafverfolgung der genannten Personen zunächst
nicht stattfinden kann.
Dilemmata
Nachlässige Untersuchung von Beweismitteln, widersprüchliche und unvollständige Zeugenaussagen. Dazu Streitigkeiten im Ausschuss um die zeitnahe Vernehmung des BKA-Beamten. Der
Ausschusstag ist prototypisch für die ausbleibende Aufklärung rund um
den Attentäter und dessen Einbindung in islamistische Strukturen und
Netzwerke.
Immerhin, auf der Ebene
des LKA NRW wurde offenkundig ein Netzwerk gesehen, untersucht und
verfolgt. Ein Eingeständnis, das andere Behörden weiterhin nicht bereit sind zu treffen. Ginge
es nach den Bundesbehörden, so würde sich der Ausschuss wohl
ausschließlich mit den über 100 Terrabyte an bereitwillig vorgelegtem
Videomaterial befassen. Auswertezeit: etwa 2 Jahre. Absehbarer Erkenntnisgewinn: Es gab einen Anschlag. What a time to be alive!
Eine
Randmeldung an diesem Tag ist, dass Armin Schuster (CDU) am Morgen aus
dem Untersuchungsausschuss ausgeschieden ist und die Leitung an
Klaus-Dieter Gröhler (CDU) abgegeben hat. Die Arbeit im Innenausschuss und parlamentarischen Kontrollgremium laste ihn aus, heißt es. Ein Statement zum Wechsel an der Ausschussspitze bleibt aus.