Über Schwarzfahrer und ein U-Boot
Parlamentarier besprechen langwierig ein Routineverfahren, während der Aufreger dieser Woche hinter verschlossenen Türen behandelt wird
Kaum 40 Minuten dauerte die Vernehmung eines Staatsanwaltes, der eine Schwarzfahrt des späteren Attentäters vom Breitscheidplatz nicht weiterverfolgte. Aufgrund des vorliegenden Namens und der bis dato sauberen Weste gab es keine Ansatzpunkte für eine Strafverfolgung.
Da sich der Untersuchungsausschuss mehrheitlich darauf geeinigt hatte, die Vorgänge zwischen der Ankunft des späteren Attentäters und dem 19. Dezember 2016 chronologisch aufzuarbeiten, reiste der 1. Staatsanwalt Bastian Kioschis eigens aus Offenburg an. Die Faszination für einen juristischen Routinevorgang hält sich jedoch in Grenzen. Noch während der ersten Fragerunde winkt Niema Movassat mit einem freundlichen „Guten Tag Herr Kioschis. Wir von der Linksfraktion haben keine weiteren Fragen an Sie“ ab.
Linke und Grüne kritisieren die chronologische Aufarbeitung, die durch die Ausschussmehrheit von CDU/CSU und SPD als Rahmen gesetzt wird. Auf der Liste der weniger relevanten Zeugen standen bereits der Polizist, bei dem der spätere Attentäter Asyl beantragte, ein Staatsanwalt, der ein Routineverfahren wegen illegaler Einreise führte, sowie nun Kioschis, der selbstbewusst und souverän auftritt, sich aber der nachrangigen Bedeutung bewusst ist.
Ein zweiter Zeuge, der ins Visier der Obleute von CDU/CSU geriet, kann heute aufgrund einer Erkrankung nicht aussagen. Bahnbrechende Informationen seien vom ihm, dem Leiter der Erstaufnahmeeinrichtung, ohnehin nicht zu erwarten, da er nach Aussagen der Oppositionsvertreter lediglich erklären würde, dass der spätere Attentäter niemals in der Erstaufnahmeeinrichtung in Karlsruhe aufgetaucht wäre.
U-Boot auf Schwarzfahrt
Medienberichte der Zeitung „Welt“ brachten in der vergangenen Woche eine „Schwarzfahrt“ der besonderen Art ans Tageslicht. Die Vertreterin des Bundesinnenministeriums Frau Dr. Haarmann hatte dem Untersuchungsausschuss verschwiegen, dass sie im Untersuchungszeitraum im Bundesamt für Verfassungsschutz eingesetzt war. Im Rahmen ihrer Aufgaben behandelte sie bis ins Jahr 2016 Fälle aus dem direkten Umfeld des späteren Attentäters und beobachtete Personen wie dessen Wohnungsgeber in Berlin und einen Kontakt zu einer Moschee in Dortmund.
Haarmann hatte in ihrer Funktion nicht nur Zugang zu allen Akten des Untersuchungsausschusses, sondern bearbeitete auch schon kurz nach dem Attentat parlamentarische Anfragen zum Fall. In öffentlichen Sitzungen intervenierte sie während der Aussagen von Mitarbeitern des Bundesamtes für Verfassungsschutz und wollte selbst die Nennung von Personennamen nicht zulassen, die längst presseöffentlich durch Gerichtsverfahren bekannt waren.
Über einen Zeitraum von gut sechs Monaten nahm Haarmann an Beratungssitzungen teil, in denen die Obleute über den weiteren Ablauf der Ermittlungen sprachen, und begleitete auch die nicht-öffentlichen Zeugenvernehmungen.
Obwohl die Empörung über diesen Vertrauensbruch fraktionsübergreifend einhellig ist, fallen die Reaktionen der Parlamentarier_innen unterschiedlich aus. Während der Ausschussvorsitzende Armin Schuster (CDU/CSU) keine Einschränkungen für die Ausschussarbeit erkannt haben will, findet Martina Renner (Linksfraktion) deutlichere Worte: „Der Vorwurf ist nicht nur, dass man die Zeugeneigenschaft von Frau H. gegenüber dem Ausschuss absichtlich verschwiegen hat, sondern auch, dass die Zeugin H. ihre Rolle in diesem Ausschuss dazu genutzt hat, andere Zeugen und Zeuginnen zu beeinflussen, bestimmte Komplexe, Personen oder Themen nicht dem Ausschuss zu offenbaren.“
Sabotage des Ausschusses
Der Vorwurf steht im Raum, dass das Bundesinnenministerium den Ausschuss in seiner Arbeit behindert. Zum Rapport in nicht-öffentlicher Sitzung erschien der Leiter der Abteilung Öffentliche Sicherheit im Bundesinnenministerium Stefan Kaller. „Uns trat das Ministerium mit einer Mischung aus Arroganz, Ignoranz und Respektlosigkeit entgegen. Ein Problembewusstsein war in keiner Weise erkennbar“, beschreibt Fritz Felgentreu (SPD) das Auftreten von Kaller.
Am Rande werden Vorwürfe laut, Obleute hätten den Namen von Dr. Haarmann öffentlich genannt und damit Schutzinteressen verletzt. Ein Name, der in öffentlichen Sitzungen auf einem Namensschild gut leserlich platziert war, während Haarmann in einer Funktion dort saß, die in vergleichbaren Ausschüssen erwartbar Gegenstand der Berichterstattung von Journalisten werden kann. Selbst wenn es ein legitimes Schutzinteresse für Haarmann gibt, ist es nach sechs Monaten öffentlicher Ausschussarbeit naiv, davon auszugehen, es würde ausreichen, künftig nur von „Frau Dr. H.“ zu sprechen.
Für die Ermittlungsarbeit der Parlamentarier bedeutet die Personalie der H. ein zusätzliches Pensum an Arbeit. Aussagen müssen erneut kritisch gelesen werden. An welchen Punkten intervenierte H. bei Zeugenaussagen? Welche Unterlagen zum Fall des Attentäters haben Schnittmengen mit den von H. bearbeiteten Fällen?
Arbeitserschwernisse, bei denen Martina Renner notfalls zu drastischen Mitteln greifen will, die über die Vereidigung von Zeuginnen und Zeugen hinausgehen. Renner zieht Mittel in Betracht, die bei einem Untersuchungsausschuss in den 1960ern zur Anwendung kamen: „Damals haben eine sehr selbstbewusste Opposition mit auch sehr selbstbewussten Parlamentariern der Regierungsparteien gemeinsam die Entscheidung getroffen, die Bundesregierung von einem Teil der Beweisaufnahme auszuschließen.“ Renner führt aus, dass es keinen Rechtsanspruch der Bundesregierung gibt, bei der Beweisaufnahme zugegen zu sein.
Aufklärung geht anders
Mit der Personalie H., die von einer Position der Exekutive aus in die Arbeit der Legislative wirkte und dort theoretisch auch die Möglichkeit hatte, eventuelle Versäumnisse zu kaschieren, stellte das Bundesinnenministerium nicht nur die Gewaltenteilung auf eine harte Probe. Auch in den Reihen der Opfer und Hinterbliebenen des Attentats herrscht über die aktuellen Entwicklungen im Ausschuss Unmut.
Bei einem Gespräch mit Bundeskanzlerin Merkel, die Aufklärung versprochen hat, drängten sie darauf, dass den Untersuchungsausschüssen ungeschwärzte Akten zur Verfügung gestellt werden. Die chronologische Vorgehensweise des Ausschusses wird dafür sorgen, dass die Aufarbeitung der Erlebnisse noch Jahre andauert. „Ich will wissen, was rund um den 19.12.2016 passiert ist und nicht, wann der Attentäter mal schwarzgefahren ist“, bringt es eine Hinterbliebene auf den Punkt.