Übersehen, ignorieren und vertuschen
Selbstkritisch und schuldbewusst tritt der Leiter des LKA Berlin vor den Obleuten auf. Erklärungen für das Verhalten seiner Mitarbeiter hat er aber nicht.
Fragen über Fragen, Verwunderung und Unverständnis – in fast 11 Stunden dieses Sitzungstages sammeln die Obleute Indizien für die nicht enden wollende Liste des Behördenversagens. Als ersten Zeugen des Tages vernehmen die Obleute Lokmann D. aus der Geflüchtetenunterkunft in Emmerich. Er sagt aus, wie er das Verhalten des späteren Attentäters im Oktober 2015 erlebte. Schon in den ersten Kontakten wurde ihm klar, dass vom späteren Attentäter eine Gefahr ausging, denn dessen Verhalten und Geschichten irritierten sehr. Zudem passte die angeblich ägyptische Herkunft nicht zum Dialekt des Tunesiers.
Zeuge D. beschreibt glaubhaft, wie seine Zweifel aufkamen. Als der spätere Attentäter dann Videos von IS-Kämpfern zeigte, nahm er schließlich Kontakt zu den Behörden auf. Seine erste Ansprechstelle war das Sozialamt. Später folgt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – eine Dienststelle, die mit dem BND kooperiert und in der in der Vergangenheit immer wieder auch Geflüchtete befragt wurden. Doch weder dort noch bei der Polizei reagierte man auf die Hinweise des Syrers.
„Hätten die Behörden meine Hinweise ernst genommen, könnten die unschuldigen Opfer vom Breitscheidplatz noch leben“, übersetzt der Dolmetscher. Als nach dem Anschlag die Unterkunft in Emmerich von der Polizei durchsucht wurde, interessierte sich zunächst wieder kein Beamter für Angaben von Zeuge D. Als den Bewohnern klar wurde, dass die Durchsuchung mit dem Terroranschlag in Berlin zu tun hatte, ging er erneut zur Polizei. „Sie konnten gar nicht mehr tun. Das, was sie getan haben, war sehr gut! “, sagt der Ausschussvorsitzende Armin Schuster und macht deutlich, dass die Behörden versagt haben.
Expresszeuge ohne Belang
Nur 14 Minuten verliert der Sitzungstag dann mit einem irrelevanten
Wunschzeugen der CDU/CSU, der dafür aus Kleve angereist ist und nichts
Erhellendes beitragen kann. In einem Massenverfahren hatte er etwa genau
so lang, wie heute seine Aussage dauert, mit einem letztlich nicht
eindeutig zu klärenden Handydiebstahl zu tun.
Regelmäßige Teilnehmer der Ausschusssitzungen wünschen sich so ein Massenverfahren auch für die Zeugen, die die Regierungsfraktionen als unerlässlich für die chronologische Aufarbeitung ansehen und unablässig vor den Ausschuss zitieren. Allen gemein: Ihre Aussagen wurden durch Sonderermittler und in Expertenanhörungen längst geprüft.
Unerklärliche Abläufe im LKA Berlin
Gegen 15 Uhr erscheint dann der Leiter des Berliner LKA Christian Steiof zur Aussage. Seine glaubwürdige Betroffenheit bringt Steiof im Eingangsstatement ebenso zum Ausdruck wie seinen Respekt vor den Hinterbliebenen und Opfern des Anschlags, die die Untersuchungsausschüsse im Abgeordnetenhaus und im Bundestag kritisch begleiten. An diesem Tag jedoch sind erneut keine Vertreter zugegen, und die namentliche Ansprache von Steiof erreicht die Adressaten nicht. Angesichts der schleppend fortschreitenden Aufklärung findet sich in den Gesprächen mit jenen immer häufiger Resignation und Zweifel daran, dass die Ermittlungen überhaupt etwas zu Tage führen sollen.
Steiof wirkt deutlich betroffen. Die Fragen der Obleute versucht er präzise zu beantworten, kann aber an vielen Stellen an diesem Nachmittag und auch in den Abendstunden keine schlüssige Erklärung für das Verhalten seiner Mitarbeiter finden. „Ich bin Disziplinarvorgesetzter von 3.500 Menschen – da passieren jede Woche dolle Dinger“, entgegnet Steiof auf die Fragen der Obleute. Die Task Force „Lupe“ hatte sich mit einem dieser Fälle befasst, in dem die „Kollegen offenbar kalte Füße bekommen haben“. Beamte hatten Einträge in der Datenbank POLIKS der Landespolizei manipuliert, offenbar um eigene Fehlentscheidungen zu vertuschen. Steiof selbst konnte in dem Fall nicht persönlich ermitteln, da die interne Aufarbeitung aus ermittlungstaktischen Gründen an die Polizeipräsidentin abgegeben werden musste.
Den
Ermittlern fiel bei ihrer Arbeit SMS-Kommunikation in die Hände. So
tauschte Michael Weinreich, der im NSU-Kontext dadurch auffiel, dass er
Hinweise einer V-Person nicht angemessen bearbeitete, mit seinem
Kollegen Herrn O. Nachrichten aus, in denen die Chiffre „88“ sowie
Warnungen vor Kanzlerin Merkel und dem „Gutmenschentum“ eine
rechtsradikale Weltsicht erkennen ließen.
„Observationskräfte
sind Goldstaub“, führt Steiof an. Für ihn scheint mit der verhängten
Disziplinarmaßnahme der Fall abgearbeitet. Verwunderlich angesichts der
immer wieder aufkommenden Bezüge zu rechtsradikalem Handeln im LKA, wie
die kürzlich öffentlich gewordene Drohbriefaffäre. Ein Polizist hatte auf Basis der polizeiinternen Datenbank Drohbriefe an Linke gesendet.
Christian Steiof (ehemaliger Leiter des LKA Berlin)
Steiof
wirkt seltsam unbeteiligt und mitunter unwillig, tiefer zu ermitteln.
So war auch der Tweet des Rechtspopulisten Lutz Bachmann, der sich schon
knapp zwei Stunden nach dem Anschlag auf einen tunesischen Moslem als
Attentäter berief und die Information angeblich aus Polizeikreisen haben
wollte, kein Anlass für Ermittlungen. Konstantin von Notz (Grüne) führt
aus, dass es nicht zusammenpasst, dass man beim LKA zwar beständig die
These vertrat, es hätte sich beim späteren Attentäter um einen
kleinkriminellen Drogendealer gehandelt, aber im Nachgang zum Anschlag
dessen Verbindungen ins Milieu nicht mehr überprüfte. Offensichtlich
wurde das Geld aus dem Drogenhandel zur Finanzierung des Terroranschlags
genutzt. Steiof nimmt die Ausführungen des Parlamentariers von Notz
interessiert zur Kenntnis.
Ohne Erklärung
In
der Sitzung wird Steiof über Stunden mit dem unerklärlichen Verhalten
seiner Abteilungen konfrontiert. Benjamin Strasser (FDP) zitiert
Auswerteberichte zum späteren Attentäter aus den Monaten Juni bis August
2016. Die Berichte dokumentieren ein Verhalten, das von den Ermittlern
im LKA konsequent in Richtung eines kleinkriminellen Drogendealers
interpretiert wurde. Dabei ignorierten sie offenbar die Kontakte zur
Dschihadistenszene.
Im
weiteren Sitzungsverlauf arbeitet Konstantin von Notz durch
Aktenvorhalte heraus, dass die Behörde im November 2016 die Möglichkeit
verstreichen ließ, den späteren Attentäter wegen einer Straftat „für
Minimum 3 Jahre einzuknasten“. Auch hier kann Steiof keine Erklärung
finden, warum keiner seiner Abteilungsleiter auf ihn zugekommen war, und
will Arbeitsüberlastung als mögliche Erklärung heranziehen.
„Vertrauenspersonen findet man nicht im Knabenchor“
Eine LKA-Beamtin, die kurze Zeit später zum Verfassungsschutz
wechselte, fiel 2016 durch fragwürdiges Handeln bei einer
Hausdurchsuchung auf. Bei der Durchsuchung in der Wohnung eines
Informanten des Verfassungsschutzes wurde zunächst ein Laptop
beschlagnahmt, aber auf Veranlassung der Beamtin dann wieder von der
Asservatenliste gestrichen. Die Obfrau der Linken Martina Renner
vermutet eine Intervention des Verfassungsschutzes, der immer häufiger
im Zusammenhang mit dem LKA zur Sprache kommt.
Insgesamt acht LKA-Beamte wurden im Laufe des Jahres 2016 „raubbefördert“ und wechselten zum Verfassungsschutz. Die mantraartig vorgetragene Äußerung der Verfassungsschützer, es habe sich um einen „reinen Polizeifall“ gehandelt, erhält vor diesem Hintergrund eine zusätzliche Deutungsebene.
Steiof
aber schützt seine Mitarbeiter. Der Fall sei so komplex, dass er sich
als Disziplinarvorgesetzter nicht anmaßen wolle, einem Mitarbeiter
allein die Konsequenzen anzulasten. Doch seien personelle Konsequenzen
gewollt, dann würde er nötigenfalls auch selbst zurücktreten. Auch die
politischen Akteure nimmt Steiof in Schutz und stellt dar, dass die
Priorisierung des damaligen Innensenators Frank Henkel (CDU) normal
gewesen wäre und sich nicht negativ auf die Observationsergebnisse
ausgewirkt hätte. Henkel hatte im Sommer 2016 medienwirksam den Kampf
gegen die linke Szene rund um die Rigaer Straße betrieben.
Strukturen und Köpfe
Den
Rücktritt des LKA-Präsidenten als Konsequenz zu fordern, wird den sich
abzeichnenden Problemen nicht gerecht. In der Vernehmung wird die
Verstrickung mit dem Verfassungsschutz ebenso deutlich wie die Bezüge zu
ausländischen Nachrichtendiensten. Die Abschiebung des möglichen
Komplizen Ben Ammar, der nach neuesten Berichten des Focus womöglich am
Anschlagsort bei der Flucht des Attentäters half, muss ebenso untersucht
werden wie die Tatsache, dass das Bundeskriminalamt keine
Ermittlergruppe gegründet hatte, um die Probleme durch eine zentrale
Ermittlungsführung in den Griff zu bekommen, die der spätere Attentäter
durch seine Reisen zwischen NRW und Berlin hervorgerufen hatte.
Personelle Konsequenzen sollten aber dort gezogen werden, wo eine
rechtsradikale Weltsicht den Blick verstellt und wo versucht wurde, das
eigene Fehlverhalten zu vertuschen. Egal, ob durch Manipulation von
Akten und Datenbanken, Blitzabschiebung von Zeugen oder durch die
konsequente Behauptung, der Verfassungsschutz sei für den Fall des
Breitscheidplatz-Attentäters nicht von Belang.