Wie freuen uns über Spenden per PayPal unter spende@uapod.berlin
Bei der Zeugïnnenanhörung heute ging es diesmal vorrangig um die von vielen als kurzfristig empfundene Abschiebung des Bilel ben Ammar, Kotaktperson des Attentäters vom Breitscheidplatz.
Als ersten Zeugen Herrn Simon André Henrichs, Oberstaatsanwalt am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Im Anschluss Herr Dr. Matthias Krauß, Bundesanwalt am Bundsgerichtshof und als letzte Zeugin Frau Eva-Maria Tombrink, Oberstaatsanwältin bei der Generalbundesanwaltschaft Berlin.
Hinweise werden ausgewertet und als relevant erachtet, auf dem Weg durch die Hierarchie aber verworfen.
Kriminalhauptkommissar Alexander Stephan wird als erster von vier Zeugen an diesem Donnerstag vor dem Untersuchungsausschuss zum Attentat vom Breitscheidplatz vernommen. Mit insgesamt dreieinhalb Stunden wird es die längste Vernehmung des Sitzungstages.
Alexander Staphan (BKA)
Zeuge Stephan berichtet aus seiner Arbeit am
Gefahrenabwehrvorgang Lacrima und dem daraus hervorgegangenen
Ermittlungsverfahren (EV) Eisbär. Bis zu seiner Abordnung ins Auswärtige
Amt im März 2016 war Stephan vor allem mit Bilel ben Ammar befasst.
Im
Zuge dieser Ermittlungen kam dann auch der spätere Attentäter auf das
Radar des Bundeskriminalamtes (BKA). Stephan bestätigt mit seinen
Ausführungen die Darstellungen der vergangenen Sitzungen. Seine Aussagen
zum Auftauchen und zur Identifikation des späteren Attentäters im EV
Eisbär entsprechen denen der Zeugen van Elkan und Dr. Glorius.
Sein Hauptaugenmerk galt in diesem Verfahren dem Nachrichtenmittler
Bilel ben Ammar, der als Kontakt zu Denis Cuspert, aber auch zur
Reisegruppe um Sabou Saidani für die Ermittler interessant war.
Seltsame Abläufe im GTAZ
Die Obleute versuchen an diesem Tag wieder einmal mehr Klarheit über
die Abläufe im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ zu bekommen, in dem
eine länderübergreifende Koordination stattfinden soll. Aus den
Fragestellungen, aber auch den Beschreibungen des Zeugen Stephan ergibt
sich jedoch ein Bild, in dem es weniger um effektive Koordination geht
als vielmehr darum, um Zuständigkeiten zu schachern und Verantwortung zu
vermeiden.
Auffällig: Es gibt keine erkennbare Hierarchie im
GTAZ. Eine eindeutige Sitzungsleitung fehlt offenbar ebenso wie eine
konsequente Dokumentation getroffener Maßnahmen und deren Ergebnisse.
Stephan beschreibt auf die Fragen der Obleute die Entwicklungen im
Februar 2016. Damals bat das Landeskriminalamt NRW in den Sitzungen des
GTAZ darum, den Fall des späteren Attentäters abgeben zu dürfen. Dieser
hatte sich zu einem hochmobilen Gefährder entwickelt, der zwischen
mehreren Bundesländern hin und her reiste. Das BKA lehnte die Übernahme
des Falles jedoch ab und beließ die Koordination den
Landeskriminalämtern NRW und Berlin.
Die Obleute können die
Diskrepanz nicht auflösen, das Zeuge Stephan einerseits beschreibt, dass
die Protokolle des GTAZ von allen beteiligten Behörden gegengelesen und
auf Anfrage auch ergänzt und korrigiert würden, andererseits aber kein
Hinweis auf den NRW-Antrag zu finden ist, den Fall des späteren
Attentäters an das BKA abzugeben. E-Mails aus dem LKA NRW enthalten
Hinweise auf den Antrag, der aber in den Protokollen nicht auftaucht.
Mahmud Özdemir (SPD) fragt, warum das BKA nicht vom
Selbsteintrittsrecht Gebrauch machte, um den Fall an sich zu ziehen.
Stephan hat keine Erklärung. Auch zu den Fragen von Martina Renner (Die
Linke) und Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) zu den Abläufen rund um
das Behördenzeugnis des Verfassungsschutzes kann Stephan wenig
beitragen.
Ziel des Behördenzeugnisses ist in erster Linie
Quellenschutz. Behörden verschleiern dadurch die Beteiligung und
Identifikation einzelner Vertrauenspersonen und schützen sie dadurch
mitunter auch vor Strafverfolgung durch andere Behörden, weil den
Ermittlungsinteressen Vorrang vor der Strafverfolgung eingeräumt wird.
Stephan kann nicht auflösen, welche Informationen durch das
Behördenzeugnis legendiert werden sollten, und beschreibt, dass
eigentlich alle Punkte, die das Behördenzeugnis damals enthalten habe,
auch Bestandteil der Sitzungen des operativen Informationsaustausches
waren.
Phantomvideo
Kurz nach dem
Anschlag am Breitscheidplatz wechselte Stephan zur besonderen
Aufbauorganisation BAO City, die einberufen wurde, um Hinweise zum
Attentäter zu sammeln und die Tat zu untersuchen.
Der
Ausschussvorsitzende Armin Schuster fragt nach dem Video, das laut den
unzureichend belegten Darstellungen der Focus-Online-Redaktion Bilel ben
Ammar zeigen soll, der dem Attentäter zur Flucht verhilft, indem er
einen Menschen am Breitscheidplatz mit einem Kantholz an den Kopf
schlägt und schwer verletzt. Stephan sagt aus, dass es für den Bereich
der Hinweisbearbeitung, in dem er eingesetzt war, keine solche
Information und kein solches Video gegeben habe.
Stephan
wird auch mit Ermittlungshinweisen konfrontiert, die das BKA nicht
weiter verfolgt hat. Dazu zählen Fotos von Weihnachtsmärkten, die
Personen aus dem Umfeld des Attentäters gemacht hatten, sowie der Tweet
von Pegida-Initiator Lutz Bachmann, der schon kurz nach der Tat von
einem tunesischen Moslem als Täter sprach. Stephan kann auf die Fragen
von Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen), warum es nicht einmal
interne Ermittlungen dazu gab, nichts beitragen.
Blinde Flecken
Im weiteren Sitzungsverlauf offenbaren die Zeuginnen Leonie Simonis und Katharina Mühlfeld, die in der Hinweisbearbeitung und Auswertung eingesetzt waren, einen kriminalistischen Spürsinn, den die Obleute bei den zuvor gehörten BKA-Beamten Dr. Glorius und Stephan vermissten. Simonis teilt die Ansicht, dass es sich bei den Bildern auf dem Mobiltelefon von Bilel ben Ammar um Fotos handelte, die für die Tatvorbereitung von Belang waren. „Das waren keine touristischen Fotos“, äußert Simonis und beschreibt, dass die Fotos die spätere Einfahrtschneise, aber auch Poller und Bodenbeschaffenheit am Breitscheidplatz zeigen.
Leonie Simonis (BKA)
Nach den Schilderungen der jungen BKA-Beamtinnen waren zumindest auf diesen Arbeitsebenen ein Jagdtrieb und Ermittlungswillen erkennbar, die sich aber in der weiteren Hinweisbearbeitung bisher nicht wiederfinden.
Katharina Mühlfeld (BKA)
Auch Zeugin S. D. vom LKA Berlin kann ihre Arbeit in ein positives Licht rücken. Sie schildert die komplizierten Zusammenhänge, teils auch in nicht-öffentlicher Sitzung, für die Referenten schlüssig, kann aber auch zur Frage nach der Beschlagnahmung eines Laptops bei einer V-Person des Verfassungsschutzes nichts beitragen. Die Umstände, die dazu führten, dass ein vom LKA Berlin rechtmäßig beschlagnahmter Laptop nach einem Anruf zunächst wieder in die Hände des Beschuldigten zurückging, konnten nicht näher erhellt werden.
S. D. (LKA)
Das Publikum
Teil des
Sitzungsgeschehens ist auch das Publikum auf der Tribüne oberhalb des
Saales 4.900 im Paul-Löbe-Haus. Die Mischung aus einzelnen Opfern und
Hinterbliebenen, Bundestagsmitarbeitenden und Journalist_innen pendelt
zu Sitzungsbeginn um die Zahl von etwa 20 bis 30 Personen. Je länger der
Sitzungstag dauert, desto deutlicher nimmt die Zahl ab.
Auffällig sind im Publikum immer wieder Personen, die in den Pausen
aufmerksam den Gesprächen der Journalist_innen folgen. Manche bestätigen
mitunter Detailinformationen sachkundig, sind jedoch zu keinerlei
weiterem Gespräch bereit. Auf die freundliche Nachfrage eines Kollegen
nach ihrem Bezug zum Ausschuss reagiert eine junge Frau am Rande dieser
Sitzung nahezu verschreckt und schweigt dann.
In einer anderen
Sitzung mischte sich eine Gruppe von vier Bundespolizisten mit
vorgeblich rein privatem Interesse in den Nahbereich der
Journalist_innen auf der Tribüne und verfolgte via Social Media das
Twitter-Geschehen am Hashtag. Per Direktnachricht freundlich
angesprochen, reagierte der erkennbar als Anführer der Vierergruppe
aufgetretene Polizist mit der spontanen Löschung seines
Twitter-Accounts.
Öffentlichkeitsgrundsatz
Publikumskontakt gehört zum journalistischen Handwerk dazu. Angesichts
der aktuellen Berichterstattung zu rechtsradikalen und medienfeindlichen
Netzwerken innerhalb der Strukturen der Sicherheitsbehörden sind
anonyme Onlinekontakte allerdings ebenso unangenehm wie rein privat
auftretende Polizisten, die sich auf der Tribüne in den unmittelbaren
Nahbereich von berichtenden Journalist_innen begeben.
Das
Interesse am Thema ist verständlicherweise besonders in Kreisen der
Sicherheitsbehörden groß. Daher sind – immer vorausgesetzt, die
Twitter-Profile und Internetinformationen entsprechen den realen
Personen – Leser wie aus dem Bundesministerium für Justiz und
Verbraucherschutz sowie aus dem Bereich „Ermittlung, Fahndung,
Gefahrenabwehr“ des BKA an meinem Twitter-Profil zu finden. Das beste
Indiz, dass der Ausschuss nicht nur im Sitzungssaal des Bundestags
wirkt, sondern auch darüber hinaus.
Irgendetwas wird im Internet-Referat E6 im Bundesamt für Verfassungsschutz überwacht. Am Ende des Sitzungstags ist klar: Relevante islamistische Gefährder sind es nicht
Informationen zu 81 Namen fragte der Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz-Attentat bei der Bundesregierung an. 42 weitere Namen gab das Innenministerium hinzu, weil man sie dort für relevant hielt. Die Namensliste der 123 klingt wie das Who’s Who der Islamistenszene. Neben Propagandisten der radikal-islamistischen Szene wird gegen einige Personen bereits im Abu-Walaa-Prozess ermittelt. Personen, die nach allgemeinem Verständnis zum Umfeld des Attentäters vom Breitscheidplatz gehörten.
Das Referat E 6 der Zeugin Cordula Hallmann kann nichts vorweisen. 123 Mal keine Erkenntnisse. 123 Mal keine Sammlung von Informationen in Facebook und anderen sozialen Netzwerken. Nicht aus offenen Quellen wie der Kommunikation in Gruppen. Nicht aus Chats und anderem Nachrichtenfluss.
Zu den genannten Personen gab es in anderen Referaten des Verfassungsschutzes allerdings Personenakten, teilweise auch Verdachtsmomente. Oder es wurde mit klassischen nachrichtendienstlichen Mitteln an den Personen gearbeitet. Der spätere Attentäter selbst war elf Mal Thema im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ, doch offenbar erteilte niemand den Auftrag, Erkenntnisse zur Person im Internet zu sammeln.
„Maximal unglaubwürdig“, twittert die Obfrau der Linken Martina Renner. „Auf der Liste standen der IS-Prediger Abu Waala, der mutmaßliche Mittäter Bilel Ben Ammar, Kontaktpersonen aus der Fussilet-Moschee und viele andere mehr. Und zu denen will das BfV keine Erkenntnisse im Internet erhoben haben?“
Auch der Ausschussvorsitzende Armin Schuster ist irritiert, dass weder Facebook- noch WhatsApp-Accounts des Attentäters überwacht wurden. „Ich war sehr überrascht, dass das nicht zum Standardrepertoire gehört im Fall eines islamistischen Gefährders, der zwar einer von vielen war, trotzdem aber vom BfV selbst auch als herausgehoben bewertet wurde“, sagte Armin Schuster (CDU/CSU) nach der Sitzung. „Es wurde ja einiges unternommen wie die Vorlage von Lichtbildern. Und gerade weil diese Lichtbildvorlagen gescheitert sind, hätte ich mir bei so vielen Fragezeichen vorgestellt, dass man seine Kommunikation und Aktivitäten in sozialen Medien anschaut. Das hat mich sehr überrascht.“
Maximal unglaubwürdig
Nicht nur die prominenten Namen auf der Liste der 123 machen stutzig. Selbst der spätere Attentäter hatte bereits eine Gefängnisstrafe in Italien verbüßt und dort einen Eintrag in das Schengener Informationssystem erhalten. In Deutschland hatte er Kontakt zu Abu Walaa, der via Facebook, Youtube und Telegram predigt und schon deshalb ein Fall für den Arbeitsbereich der Zeugin Hallmann hätte sein müssen.
Darüber hinaus gab es Hinweise ausländischer Nachrichtendienste in Richtung der deutschen Behörden. Eigentlich genug Anlass, um alle zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle des späteren Attentäters zu überwachen sowie das sichtbare digitale Kontaktumfeld zu prüfen. Doch nach Aussage von Zeugin Hallmann passierte nichts dergleichen.
Weder per Hand noch automatisiert wurden die digitalen Kanäle überprüft, obgleich die Sicherheitsbehörden in Deutschland eine Reihe an Programmen zur Analyse digitaler Vernetzungen und Kommunikationskanäle nutzen. Darunter auch XKEYSCORE, das beim Verfassungsschutz angeblich nur in einem Testbetrieb lief, aber in den Jahren vor dem Attentat mit Daten aus dem Bereich des islamistischen Extremismus gespeist wurde, wie Martina Renner hervorhob.
Sichtlich ins Stocken geriet Zeugin Cordula Hallmann, als sie nach den Übersetzungskapazitäten ihres Referates bei den Sprachen Arabisch und Türkisch gefragt wurde. „Sie haben scheinbar nicht die Kapazitäten, die Top-50-Gefährder und Verdächtige mitzuplotten und zu schauen, was treiben die eigentlich?“, schließt der Ausschussvorsitzende Armin Schuster. Als andere Erklärung bliebe nur die Annahme, dass die Online-Aktivitäten von islamistischen Gefährdern gar nicht beim Verfassungsschutz ausgewertet werden. Aber wo dann?
(Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass zu Beginn des Sitzungsgeschehens der ehemalige Senator für Gesundheit und Soziales Mario Czaja dem Ausschuss die Zustände im Landesamt für Gesundheit und Soziales im Jahr 2015 und 2016 erörterte und der angekündigte zweite Zeuge des Bundesamtes für Verfassungsschutz Carlo Macri nur in geheimer Sitzung vernommen werden soll.)