Schrödingers Verfassungsschutz
Berlin ist immer eine Reise wert. Das wissen jetzt auch zwei weitere Zeugen, die wenig Erhellendes beitragen, während der Verfassungsschutzzeuge mauert
Kaum 45 Minuten brauchen die sechs Bundestagsfraktionen, um ihre Fragen an die beiden Zeugen aus der Landeserstaufnahmestelle für Geflüchtete in Ellwangen zu richten, die nach Berlin eingeladen wurden. Beide haben keine Erinnerung an den Attentäter, weil sie in den Jahren 2015 und 2016 in einem Massenverfahren täglich über mehrere Stunden Geflüchtete erfassten und die Erstaufnahmestelle mehr als das Doppelte der vorgesehenen Kapazitäten aufnehmen musste.
Alles nicht neu
Sowohl die Überbelegung der Erstaufnahmeeinrichtungen als auch die Herausforderungen bei der Erfassung der ankommenden Geflüchteten zählen seit der Expertenanhörung in der ersten öffentlichen Sitzung zum Allgemeinwissen des Ausschusses. Die von den Regierungsfraktionen gewünschte chronologische Vorgehensweise in der Aufarbeitung wird auch in Zukunft dafür sorgen, dass Zeugen ihre Aussagen wiederholen müssen, die sie bereits vor anderen Untersuchungsausschüssen abgegeben haben. Dabei könnten deren Erkenntnisse, so denn wirklich gebraucht, auch durch Beiziehung von Protokollen in den Bundestagsausschuss einfließen.
Mit dem Zeugen Thilo Bork beginnt der relevante Teil des Ausschusstages. Zuständig für die Beschaffung von Informationen zählt Bork mit den Zeugen Freimuth, Siebertz und C. M. (in geheimer Sitzung vernommen) zu den Personen, die im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) für islamistischen Terrorismus zuständig sind.
Show must go on
Bork trommelt fleißig für den Verfassungsschutz. Sein Eingangsstatement habe er selbst verfasst. Die Entscheidung dafür sei jedoch „ein Mix“ aus eigener Motivation und dem Zuraten seines Chefs und Borks Ehefrau gewesen. Was überwiegend klingt wie ein Wikipedia-Eintrag zum Verfassungsschutz und ganz auf der Linie vom designierten Ex-Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen ist, garniert Bork mit reichlich Street-Credibility.
Der angeblich 1970 geborene Bork sagt aus: „Ich habe angefangen in der Beschaffung, auch als Quellenführer. Das heißt, ich war auf der Straße. … Ich kann sagen, dass ich meine zu wissen, wovon ich spreche.“ Bork weiß um die Probleme, die sein Job mit sich bringt: „Selbst wenn man Leute kennenlernen will, schafft man es nicht immer, Leute auch kennenzulernen.“ Zeuge Bork ist sichtlich bemüht, die Erzählung aufrechtzuerhalten, der Verfassungsschutz habe mit dem Fall des Attentäters nichts zu tun gehabt.
In seinem Reden schwingt ein Unterton mit, dass ohnehin nur Verfassungsschützer wirklich verstehen, was Verfassungsschützer tun. Möglicherweise ist das die Erklärung dafür, warum Journalisten und Parlamentarier den Eindruck haben, es hätte rund um den Attentäter nur so von V-Leuten, Informanten und Quellen gewimmelt, die durch zahlreiche Behörden in die Fussilet-Moschee entsandt worden wären. Die Moschee ist einer von vielen „Hotspots“, die nach der Beschreibung von Bork immer wieder für einen kurzen Zeitraum in die Aufmerksamkeit von Behörden gerieten und dann wieder an Relevanz verlören.
Der Trommler vom Verfassungsschutz
Bork will die Definitionshoheit des BfV erhalten. „Wir haben eine andere Definition des nachrichtendienstlichen Umfeldbegriffs“, reizt Bork die Geduld des Grünenparlamentariers Konstantin von Notz. „Wahrscheinlich waren eben doch fünf Leute im direkten Umfeld von Amri in der Fussilet-Moschee. … aber Sie sagen jeden Tag in jede Kamera, es sei niemand dran gewesen“, kritisiert von Notz die Verfassungsschutzerzählung.
Dabei ist zunächst einmal nachvollziehbar, was Verfassungsschutzmann Bork beschreibt. Ein Attentäter, der im Geheimen vorgeht, wird nicht unbedingt viel Wert auf einen großen Freundeskreis legen und sich bereitwillig mit immer neuen Menschen treffen. Unglaubwürdig wird das Handeln des Verfassungsschutzes und anderer Behörden aber spätestens am 15. Juni 2016, als der spätere Attentäter aus der Observation genommen wurde und dennoch bis zum November 2016 immer wieder auf den Tagesordnungen des gemeinsamen Terrorabwehrzentrums GTAZ stand.
Behördenübergreifend war der Attentäter insgesamt elf Mal auf den Tagesordnungen. Wo die Fakten stören, braucht es eine neue Sprache. „Im Umfeld von Amri waren wir nicht vertreten“, sagt Zeuge Bork aus und meint wohl das nachrichtendienstliche Umfeld. Im allgemeinsprachlichen Verständnis von „Umfeld“, das Parlamentarier und Öffentlichkeit pflegen, gab es mindestens Kontakte zu einer Mitfahrgelegenheit und einem Wohnungsgeber. Es gab Hinweise von ausländischen Nachrichtendiensten zur Person des späteren Attentäters. Und es darf davon ausgegangen werden, dass Quellen des Verfassungsschutzes und der Polizeien, die den Attentäter später auf Lichtbildvorlagen erkannten, auch in den Moscheen zugegen waren, in denen der Attentäter ein und aus ging.
Ziemlich viel, was auf der Umfeldliste zusammenkommt. Und da hilft der Begriff des „nachrichtendienstlichen Umfeldes“ schon sehr, wenn das Adjektiv „nachrichtendienstlich“ die Bedeutung des Wortes „Umfeld“ nötigenfalls ins Gegenteil verkehren kann. Ein Paradoxon, das von der Beteiligung des Verfassungsschutzes ablenken soll, der unter keinen Umständen verantwortlich dafür sein will, dass es trotz aller Beobachtungs- und Analysemaßnahmen immer ein Restrisiko gibt, dass ein Attentäter so geheim agiert, dass er den Behörden entgeht.
Verheerendes Bild
Einen Fehler einzugestehen, scheint unmöglich. Doch statt sich nun bedeckt zu halten, lässt Zeuge Bork keine Gelegenheit ungenutzt, Angst zu verbreiten. Man hätte es damals mit einer mittleren dreistelligen Zahl an Gefährdern zu tun gehabt, die ähnlich problematisch gewesen wären wie der Attentäter. Während sich die Zuhörenden unweigerlich ausmalen, was der Effekt wäre, würden alle diese potentiellen Attentäter so handeln, wie es am Breitscheidplatz geschah, schrumpft die im Raum stehende Zahl.
Als Obleute nachhaken, wie viele der Gefährder denn potentielle Attentäter seien, spricht Zeuge Bork von einem zweistelligen Bereich bis hin zu dem Eingeständnis, eigentlich keine genaue Zahl nennen zu können. „Ein verheerendes Bild, das vom Verfassungsschutz dadurch in der Öffentlichkeit entsteht“, resümiert Konstantin von Notz.