Behördenversagen trifft auf den Wunsch nach Beschaulichkeit. Während die Opposition kritisch Bilanz zieht, vermeiden die Regierungsparteien Kritik
Zur Halbzeit der Legislaturperiode zog die Bundesregierung im November 2019 mit großem Bahnhof eine Zwischenbilianz des Regierungshandelns. Um den Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz-Attentat indes, blieb es still. Die Oppositionsparteien FDP, Bündnis90/Die Grünen und die Linke durchbrachen diese Stille und setzten rechtzeitig vor dem Jahrestag am Mittwoch eine einstündige Zwischenbilanz an, an der sich die Parteien der großen Koalition jedoch nicht beteiligten.
Der Ausschussvorsitzende Klaus-Dieter Gröhler (CDU) hält das für zu früh, wie er in einem Interview im ZDF Morgenmagazin vorab rechtfertigt. Man sei mitten in der Arbeit. Ein Zwischenergebnis sei derzeit nicht angebracht, „weil man sich durch so ein Zwischenergebnis möglicherweise auch bestimmte Fragestellungen verschüttet.“
Eine Kritik, dass der Untersuchungsausschuss weiterhin auf Akten des Bundesamtes für Verfassungsschutz wartet, die längst vorliegen müssten, kommt Klaus-Dieter Gröhler nicht über die Lippen.
Timing
Pflichtschuldig meldet
sich Fritz Felgentreu dann am Jahrestag des Attentats mit einer
Pressemeldung zu Wort, als das Thema in den Redaktionen entweder schon
produziert ist oder nur noch auf die aktuellen Bilder aus der
Gedenkveranstaltung des Abends warten muss.
„Wir konnten entgegen früherer Verlautbarungen weitere Belege sammeln, dass Amri kein klassischer Einzeltäter und auch kein ‚reiner Polizeifall‘ war. Amri war in länderübergreifende islamistische Netzwerke eingebunden. Unsere Nachrichtendienste hatten Erkenntnisse über ihn“, formuliert Fritz Felgentreu, was in der Pressekonferenz von FDP, B90/Grüne und Linken deutlich als Versagen der Bundesbehörden dargestellt wurde.
Eine proaktive und zeitgerechte Pressearbeit – abseits von den obligatorischen Bekundungen von Anteilnahme zum Jahrestag – vermieden die Regierungspateien.
Versagen auf Bundesebene
Am Jahrestag des Anschlags ist es Polizeioberrat Youssef El-Saghir vom
Landeskriminalamt Berlin, der zum Behördenversagen aussagen muss. Die
Fragestellungen der Obleute kreisen vor allem um eine
Personenenüberprüfung des späteren Attentäters am 18. Februar 2016.
Zunächst rechtfertigt sich El-Saghir, das LKA Berlin habe zu spät davon
erfahren, dass man den späteren Attentäter observieren, aber nicht direkt ansprechen
solle. Eine explizite Order habe es erst knapp eine Stunde nach dem
Zeitpunkt gegeben, als Berliner Polizeikräfte den späteren Attentäter am Zentralen Omnibusbahnhof ZOB bereits kontrolliert und sein Handy beschlagnahmt hatten.
Es ist das penibel geführte Einsatztagebuch des NRW-Beamten KHK M., aus dem die Obleute nun aber belegen konnten, dass die Information über die Gefährlichkeit des späteren Attentäters, sowie dessen Berlinpläne bereits am Vortag in der Sitzung des gemeinsamen Terrorabwehrzentrums GTAZ ein Thema waren. In einer Infoboard-Runde wurde darüber gesprochen, dass Observation, aber kein Zugriff erfolgen sollte.
El-Saghir entschuldigt den Zugriff nicht zuletzt auch damit, man habe nicht rechtzeitig Observationsteams bereitstellen können. Die mangelhafte und zu späte Weitergabe der Information durch den Beamten C. und den zuständigen Infoboard-Bearbeiter, kann er nicht erklären.
Klare Worte
„Der Tag am ZOB hat viel mehr Bedeutung bekommen, als der eigentlich verdient“, rechtfertigte El-Saghir noch zu einem frühen Zeitpunkt seiner Aussage. „Ich war durchgängig der Ansicht, dass der Willen einen Anschlag zu begehen keine Konstante darstellte“, erklärt er das abnehmende Interesse am späteren Attentäter im Laufe des Jahres 2016.
Im Mittlerweile dritten
Untersuchungsausschuss fallen aber auch Worte, die immerhin nicht mehr
zum Ziel haben, Fehler zu vertuschen: „Die Liste an Versäumnissen, wenn Sie die vorlesen würden, würde den heutigen Tag sprengen“, räumt El-Saghir schuldbewußt ein.
Trotzdem bleibt die Häufung von Fehleinschätzungen unerklärlich. Aus
der Telefonüberwachung des späteren Attentäters geht hervor, dass sich
dieser nach dem Zugriff am ZOB der polizeilichen Überwachung bewusst
war. Als am 18. Februar 2016 das LKA NRW noch versuchte, genaueres zur
Reiseroute des späteren Attentäters in Erfahrung zu bringen, musste
die VP 01 ein Telefongespräch führen. Der wenig später erfolgende
Polizeizugriff enttarnt die VP-01, die danach nicht mehr einsetzbar ist.
„Das LKA hat auf mich gewartet in Berlin“, ist in den Protokollen der
Telefonüberwachung zu finden. Der spätere Attentäter wechselte daraufhin
seine Telefone und informiert seine Kontakte.
„Die
Idee eine eigene VP ins Rennen zu bringen, die stand nicht zur Debatte,
weil mehr als die VP-01 hätte niemand zu Tage bringen können“, gibt El-Saghir zu Protokoll. „Im Nachhinein betrachtet, wäre es eine sinnvolle Maßnahme gewesen.“
Bundesverantwortung
So
bereitwillig der Polizeioberrat El-Saghir die Versäumnisse einräumt, so
deutlicher macht er, dass spätestens nach der Polizeiaktion vom 18.
Feburar 2016 hätte klar sein müssen, dass der Fall späteren Attentäters
zwischen den Länderpolizeien nicht effektiv gehandhabt werden kann. Die
deutsche Quelle VP-01 war verbrannt. Der Nachrichtenmittler Anis Amri,
der wohl am nächsten am IS-Statthalter Abu Walaa dran war, tauchte
zumindest digital ab und änderte sein Verhalten, wie es das IS-Handbuch
rät.
Verantwortung und AufklärungEl-Saghir
bittet nach dem Ende der Sitzung eines der Opfer des Anschlags um
Verzeihung. Auch der Behördenleiter zeigte sich vor dem
Untersuchungsausschuss reumütig.
Zwei weitere Kollegen des LKA
Berlin verweigern die Aussagen vor dem Untersuchungsauschuss, um sich
nicht zu belasten. Sie fürchten die erneute Aufnahme von Ermittlungen
wegen mutmaßlicher Aktenmanipulationen. Eine Woche zuvor sah mit dem
Zeugen Philipp Klein ein Beamter des Bundeskriminalamtes keine
Veranlassung für eine Ermittlungsgruppe auf Bundesebene. Die Bereitschaft sich zu einer Mitverantwortung zu bekennen variiert stark. Das fangen auch die Solidaritätsbekundungen aus Regierungsparteienkreisen anlässlich des dritten Jahrestages nicht auf.