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Wir hörten heute den Zeugen J., ein Mitbewohner des späteren Attentäters in der Erstaufnehmeeinrichtung und Zeuge Schimanski aus Dortmund.
Podcast zum 1. Untersuchungsausschuss
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Wir hörten heute den Zeugen J., ein Mitbewohner des späteren Attentäters in der Erstaufnehmeeinrichtung und Zeuge Schimanski aus Dortmund.
Zeuge Mohammed J. sagt etwa zwei Stunden vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Attentat vom Breitscheidplatz aus. Im Jahr 2015 kam er gemeinsam mit dem späteren Attentäter in einer Geflüchtetenunterkunft in Emmerich in Nordrheinwestfalen an. Dort teilten beide für etwa einen Monat ein Zimmer.
Mohammed J. beschreibt den späteren Attentäter als aufbrausend, laut und sendungsbewusst. Immer wieder wies jener andere Muslime zurecht und sagte ihnen, was sie tun oder unterlassen sollten. Mohammed J. kannte dieses Verhalten bereits von IS-Anhängern aus seinem Heimatland Syrien, die auf ihn „wirkten, als hätten sie eine Gehirnwäsche erhalten“.
Im Team übersetzen zwei Dolmetscher die Worte des Mittzwanzigers, der ruhig, geradlinig und gefasst auf die Fragen der Obleute im Ausschuss antwortet. Präzise legt er dar, welche Informationen er schon in den ersten Wochen des Zusammenlebens an die Heimleitung weitergab. Videochats mit einem eher marrokanisch-algerisch-tunesischen Akzent bekam Mohammed J. ebenso beiläufig mit wie eine gezeichnete IS-Flagge im persönlichen Notizbuch des späteren Attentäters.
Eine Freundschaft entstand nicht. Während Mohammed J. die Moschee nur zu Hochfesten wie dem Fastenbrechen aufsucht, war der spätere Attentäter täglich in der Moschee in Emmerich. „Beten kann ich auch allein für mich“, sagt Mohammed J. Er grenzte sich von den Forderungen seines Mitbewohners ab: nach Syrien gehen, kämpfen, keine Musik mehr hören und vorher möglichst viel Geld von den deutschen Behörden erschleichen. Was dazu nötig war, wusste der Tunesier offenbar sehr genau und drängte die Mitbewohner, es ihm gleich zu tun.
Einst war der spätere Attentäter selbst so wie seine Mitbewohner, rauchte und hörte Musik. Sein Leben aber hätte sich im italienischen Gefängnis geändert, als er auf Dschihadisten getroffen wäre und dann den richtigen Weg eingeschlagen hätte.
Mohammed J. berichtete der Heimleitung von den Vorkommnissen und Verhaltensweisen des Tunesiers. Auch die Zimmergenossen beschwerten sich über das Verhalten des Tunesiers. Ein Gespräch, das ein Betreuer auf Französisch mit dem späteren Attentäter geführt hatte, änderte nichts. Ein Betreuer, der die Muslime oft mit „Allahu akbar“-Grüßen provozierte. Keine Polizei, kein Verfassungsschutz – die Beobachtungen blieben ohne Reaktion der Sicherheitsbehörden.
Auch zur Jahresmitte 2016, als Mohammed J. während einer Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gefragt wurde, ob er auf Dschihadisten oder Terroristen getroffen wäre, verwies er auf den späteren Attentäter. Doch wieder reagierten die Sicherheitsbehörden nicht.
Nach dem Anschlag am 19. Dezember 2016 war Mohammed J. auf das Fahndungsbild aufmerksam geworden und prüfte den Facebook-Kontakt, den er mit dem Tunesier im Jahr zuvor geschlossen habe. Er vermutete dort ein IS-typisches Bekennervideo. Doch zu diesem Zeitpunkt war das Profil bereits deaktiviert. Nach dem Anschlag meldeten sich dann endlich Behördenvertreter, die sich als LKA-Beamte vorstellten, jedoch auf Mohammed J. nicht wirkten wie Polizisten in Zivil. In einem sehr kurzen Gespräch gab er nochmals zu Protokoll, was er über den Attentäter wusste. Erst jetzt in der Ausschusssitzung erfährt er, dass der Attentäter auf seiner Flucht nach dem Anschlag auch wieder durch Emmerich gekommen sein musste.
„Fassungslos!“, twittert die Obfrau der Grünen Irene Mhalic. „Mitbewohner von #Amri in Emmerich gibt früh Hinweise auf dessen IS-Bezug und wird von den Sicherheitsbehörden ignoriert. Auch nach dem Anschlag fragt man ihn nicht nach Amris Fluchtweg über Emmerich. Dass Amri noch einmal dort war, erfährt er erst hier im #UA1BT.“ Mihalic bringt das Behördendilemma auf den Punkt.
Ein weiterer Mitbewohner aus der Emmericher Unterkunft ist für diesen Tag vorgeladen, erscheint aber nicht und hat sich auf die Ladung des Ausschusses nicht zurückgemeldet, wie es aus Kreisen der Obleute heißt. Dieser Zeuge hatte das auffällige Verhalten laut den Unterlagen des Ausschusses an einen anderen Mitarbeiter der Heimleitung berichtet, der daraufhin die Polizei verständigte. Eine Anhörung muss es nach dem Ausschussgeschehen zu urteilen wohl im November 2016 kurze Zeit vor dem Anschlag gegeben haben.
Nach der Sitzung ist klar, dass schon in der Unterkunft in Emmerich viel übersehen wurde. So wurde der Tunesier unter einem anderen Namen geführt, während er sich seinen Mitbewohnern bereits als Anis Amri zu erkennen gab. Ein Name, der auch auf Türschildern verwendet wurde. Eine Erklärung, warum ernstzunehmende Hinweise des Zeugen an die Heimleitung gingen, aber nicht zur Anzeige gebracht wurden, suchten die Obleute vergebens.
Die Befragung des Zeugen Mark Schimanski kommt schon nach den ersten Sätzen zum gleichen Ergebnis wie so häufig in den vergangenen Monaten des Ausschusses: „Ich habe in der zentralen Ausländerbehörde als Registrierer in der Ersterfassung gearbeitet und kann mich an ihn [den späteren Attentäter] nicht erinnern.“
Das Befragungsprozedere der CDU/CSU-Fraktion, die auch 2019 mit der chronologischen Aufarbeitungstaktik vielen Sachbearbeitern eine Kurzreise nach Berlin ermöglicht, dehnt die Befragung dann immerhin auf knapp 40 Minuten aus.
Relevante Informationen darf der dritte Zeuge des Tages – Tarnname: Carlo Macri, ein Beamter aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz – dann nur noch in nicht-öffentlicher Sitzung präsentieren. Seine operative Tätigkeit verbietet eine öffentliche Aussage. Sowohl sein Anblick als auch seine Stimme sind für Gäste und Journalisten tabu. Deshalb wird die Vernehmung auch nicht in einen Nachbarsaal übertragen. Die Öffentlichkeit kann nur darauf hoffen, dass die nicht-öffentliche Aussage in Kürze als Protokoll verfügbar gemacht wird.
Die einfachste Lösung, um dem Öffentlichkeitsgrundsatz des Ausschusses gerecht zu werden, ist die technische Stimmenverfremdung. Hier mangelt es der Ausschussleitung aber wohl eher am Willen als am Budget.
Informationen zu 81 Namen fragte der Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz-Attentat bei der Bundesregierung an. 42 weitere Namen gab das Innenministerium hinzu, weil man sie dort für relevant hielt. Die Namensliste der 123 klingt wie das Who’s Who der Islamistenszene. Neben Propagandisten der radikal-islamistischen Szene wird gegen einige Personen bereits im Abu-Walaa-Prozess ermittelt. Personen, die nach allgemeinem Verständnis zum Umfeld des Attentäters vom Breitscheidplatz gehörten.
Das Referat E 6 der Zeugin Cordula Hallmann kann nichts vorweisen. 123 Mal keine Erkenntnisse. 123 Mal keine Sammlung von Informationen in Facebook und anderen sozialen Netzwerken. Nicht aus offenen Quellen wie der Kommunikation in Gruppen. Nicht aus Chats und anderem Nachrichtenfluss.
Zu den genannten Personen gab es in anderen Referaten des Verfassungsschutzes allerdings Personenakten, teilweise auch Verdachtsmomente. Oder es wurde mit klassischen nachrichtendienstlichen Mitteln an den Personen gearbeitet. Der spätere Attentäter selbst war elf Mal Thema im gemeinsamen Terrorabwehrzentrum GTAZ, doch offenbar erteilte niemand den Auftrag, Erkenntnisse zur Person im Internet zu sammeln.
„Maximal unglaubwürdig“, twittert die Obfrau der Linken Martina Renner. „Auf der Liste standen der IS-Prediger Abu Waala, der mutmaßliche Mittäter Bilel Ben Ammar, Kontaktpersonen aus der Fussilet-Moschee und viele andere mehr. Und zu denen will das BfV keine Erkenntnisse im Internet erhoben haben?“
Auch der Ausschussvorsitzende Armin Schuster ist irritiert, dass weder Facebook- noch WhatsApp-Accounts des Attentäters überwacht wurden. „Ich war sehr überrascht, dass das nicht zum Standardrepertoire gehört im Fall eines islamistischen Gefährders, der zwar einer von vielen war, trotzdem aber vom BfV selbst auch als herausgehoben bewertet wurde“, sagte Armin Schuster (CDU/CSU) nach der Sitzung. „Es wurde ja einiges unternommen wie die Vorlage von Lichtbildern. Und gerade weil diese Lichtbildvorlagen gescheitert sind, hätte ich mir bei so vielen Fragezeichen vorgestellt, dass man seine Kommunikation und Aktivitäten in sozialen Medien anschaut. Das hat mich sehr überrascht.“
Maximal unglaubwürdig
Nicht nur die prominenten Namen auf der Liste der 123 machen stutzig. Selbst der spätere Attentäter hatte bereits eine Gefängnisstrafe in Italien verbüßt und dort einen Eintrag in das Schengener Informationssystem erhalten. In Deutschland hatte er Kontakt zu Abu Walaa, der via Facebook, Youtube und Telegram predigt und schon deshalb ein Fall für den Arbeitsbereich der Zeugin Hallmann hätte sein müssen.
Darüber hinaus gab es Hinweise ausländischer Nachrichtendienste in Richtung der deutschen Behörden. Eigentlich genug Anlass, um alle zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle des späteren Attentäters zu überwachen sowie das sichtbare digitale Kontaktumfeld zu prüfen. Doch nach Aussage von Zeugin Hallmann passierte nichts dergleichen.
Weder per Hand noch automatisiert wurden die digitalen Kanäle überprüft, obgleich die Sicherheitsbehörden in Deutschland eine Reihe an Programmen zur Analyse digitaler Vernetzungen und Kommunikationskanäle nutzen. Darunter auch XKEYSCORE, das beim Verfassungsschutz angeblich nur in einem Testbetrieb lief, aber in den Jahren vor dem Attentat mit Daten aus dem Bereich des islamistischen Extremismus gespeist wurde, wie Martina Renner hervorhob.
Sichtlich ins Stocken geriet Zeugin Cordula Hallmann, als sie nach den Übersetzungskapazitäten ihres Referates bei den Sprachen Arabisch und Türkisch gefragt wurde. „Sie haben scheinbar nicht die Kapazitäten, die Top-50-Gefährder und Verdächtige mitzuplotten und zu schauen, was treiben die eigentlich?“, schließt der Ausschussvorsitzende Armin Schuster. Als andere Erklärung bliebe nur die Annahme, dass die Online-Aktivitäten von islamistischen Gefährdern gar nicht beim Verfassungsschutz ausgewertet werden. Aber wo dann?
(Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass zu Beginn des Sitzungsgeschehens der ehemalige Senator für Gesundheit und Soziales Mario Czaja dem Ausschuss die Zustände im Landesamt für Gesundheit und Soziales im Jahr 2015 und 2016 erörterte und der angekündigte zweite Zeuge des Bundesamtes für Verfassungsschutz Carlo Macri nur in geheimer Sitzung vernommen werden soll.)